"887" beim Festival in Edinburgh

Neues von Robert Lepage

FRANCOIS NASCIMBENI / AFP
Der kanadische Theatermacher Rober Lepage; Aufnahme vom März 2015 © FRANCOIS NASCIMBENI / AFP
Von Michael Laages · 15.08.2015
Der Kanadier Rober Lepage arbeitet als Theaterregisseur, aber auch als Bühnenbildner und Raumgestalter. In seinem neuen Stück "887" führt das dazu, dass er großartige Bilder schafft, aber sich inhaltlich verzettelt.
Seit bald 30 Jahren gehört der kanadische Theatermacher Robert Lepage zu den Stammgästen internationaler Theater- und Kunst-Festivals. Vor allem mit der "Dragon Trilogy" und "The Seven Streams of the River Ota" wurde er auch in Deutschland bekannt - beim "Theater der Welt", beim aller-ersten Festival "Theaterformen", beim "Sommertheater" in der Hamburger Kampnagelfabrik. Das ist nun aber schon recht lange her.
Für jüngere Lepage-Kreationen fielen die Kritiken längst nicht mehr so überschwänglich aus wie in den Gründerzeiten jener Künstler-Familie, die er um sich scharte und "Ex Machina" nannte. Jetzt meldet sich Robert Lepage beim internationalen Edinburgh Festival mit einer Produktion zurück, die er in Toronto uraufgeführt hat – und die ein großes Erinnerungstheater ist. Gestern war Premiere beim schottischen Festival-Marathon.
Legendäres Stück kanadischer Poesie
Die Geschichte geht so: Vor fünf Jahren war Robert Lepage eingeladen zum großen Fest aus Anlass des 40-jährigen Bestehens vom Literaturfestival in Montreal. Er wurde gebeten, ein legendäres Stück kanadischer Poesie vorzutragen – "Speak white" von Michéle Lalonde, 1968 geschrieben und so etwas wie das poetische Fanal der französisch-sprachigen Unabhängigkeitsbewegung jener Jahre, deren Protest und Widerstand gegen die englisch dominierten Autoritäten in Staat und Gesellschaft ja bis zu tödlichen Bombenanschlägen führte. "Speak white" war damals all jenen apodiktisch entgegengehalten worden, die sich zur Sprache der französischen Minderheit bekannten. Lepage gehörte (und gehört) dazu.
Als der Theatermacher nun begann, dieses Gedicht neu zu lesen und zu lernen (und dabei durchaus Schwierigkeiten hatte), begann er sich an jene Zeit zu erinnern. Lepage ist vom Jahrgang 1957, also in den Sprachen- und Gesellschaftskampf hinein geboren. Wie erinnere ich mich, begann er sich zu fragen, und woran? Klar – an die allererste Telefonnummer, das geht wohl fast allen so; und auch die Nummer des Hauses, in dem er aufgewachsen ist, kam ihm in den Sinn – 887 Murray Avenue in Quebec. Dieses Haus holt er nun gleich zu Beginn ins Theater – eine Art bühnenhohe Puppenstube, als massive Fassade mit Parterre, drei Etagen und acht Wohn-Parteien. Hinter den Fenstern kann es hell werden, und in den Zimmern laufen per Video maßstabsgerecht die Alltagsszenen der Bewohner von 887 Murray Avenue ab. Lepage erzählt von ihnen.
Zauberer der Räume
Mit diesem Haus hat Lepage das prägende Requisit der Inszenierung ausgepackt; und die Methode vorgeführt, die er fürs Bilder-Erfinden auf der Bühne nutzt. Wenn von Papa Lepage die Rede ist, der früher mal Rettungsschwimmer und Mädchenschwarm war und jetzt als Taxifahrer sich, Frau und vier Kinder, die alzheimerkranke Großmutter und die Wohnung in besserer Gegend mit Mühe über Wasser hält, dann fährt tatsächlich (und ferngesteuert) ein maßstabsgetreues schwarzes Taxi vor. Papa sitzt drin, manchmal winkt ihm eine Puppe vom Balkon der Familie Lepage herab: Klein-Robert.
Wenn Tante und Onkel, die kinderlos sind, die Lepage-Geschwister zu Weihnachten einladen, öffnet Lepage auf der Bühne Umzugskisten, in denen die Interieurs im Haus von Onkel und Tante zu bestaunen sind, liebevoll gebaut bis ins Miniatur-Detail. So arbeiten Bühnenbildner übrigens oft beim Entwurf eines Raumes – stellen Mini-Tische, Mini-Stühle und Mini-Bewohner vor die Kulissen in den leeren Raum. Als Zauberer der Räume beweist sich Lepage hier also einmal mehr. Denn im Haus-Modell sind auch noch eine Küche und eine Kneipe (im Menschen-Maßstab!) versteckt, schließlich sogar das Taxi, in dem sich Robert neben den Papa setzt; einmal Aufblenden der Scheinwerfer genügt, und sie wechseln die Rollen.
"887" ist aber nicht nur privates Spiel, nicht nur privates Erinnern. Auf Quebecs Boulevard (auch einem dieser tollen Modelle, mit Autos und Menschen am Straßenrand!), spricht mitten in den ersten Aufwallungen separatistischer Bemühungen als Staatsgast Frankreichs Präsident Charles de Gaulle; und zum Original-Ton der Rede bringt Lepage auch hier eine Puppe ins Spiel – sie plustert sich lärmend aus der Jackentasche hervor.
"887" zeigt ganz grandiose Bilder
Als der junge Robert zwölf ist, trägt er Zeitungen aus – und gerät vor dem Haus eines schwer bewachten Politikers mit einem Soldaten aneinander, der ihn mit der Waffe im Anschlag zwingt, alle Zeitungen auszupacken. Blödmann, murrt der Junge dem Waffenträger nach, wenn ich Bomben hätte, dann nicht in der Tasche mit den Zeitungen, sondern im Kopf! Lepage ruft so die Eskalation in Erinnerung – die zu Morden führt, Entführungen und erzwungenen Manifesten im Fernsehen. Und so kommt er schließlich auch bei Lalondes berühmtem Poem an: "Speak white". Dann setzt er sich zu Papa ins Taxi – zum stummen Einverständnis.
"887" zeigt unbedingt ganz grandiose Bilder. Aber Text und Dramaturgie des Solo-Akteurs Lepage halten über weite Strecken nicht mit. Verzettelt hat er sich, der Abend hangelt sich von einem zum nächsten eindrucksvollen Bild – doch dazwischen gähnt zuweilen brutal die Leere. So sehr also der Bühnenbildner und Raumgestalter alle denkbaren Register zieht, so wenig präzise und kompakt ist der Regisseur ihm zur Hand gegangen.
Das kann wohl nur einem passieren, der fast alles allein machen will.