75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung

Die Justiz schonte oft die Täter

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Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz verlassen das Lager und machen dabei Siegesgesten.
Der Tag der Befreiung: Überlebende verlassen 1945 das Konzentrationslager Auschwitz. © imago/Reinhard Schultz
Ein Hinweis von Matthias Buth · 27.01.2020
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Nur wenige Täter wurden für den Massenmord in Auschwitz zur Verantwortung gezogen. Zahlreiche Mithelfer kamen glimpflich oder mit Freispruch davon. Politik und Justiz haben versagt, meint der Jurist und Lyriker Matthias Buth.
Heute am 27. Januar 2020 – im Beethoven- und Hölderlin-Jahr – sprechen sie wieder zu uns: alle sechs Millionen, die aufgegangen sind im Rauch der Verbrennungsöfen von Auschwitz und in den anderen KZs in Europa. Alle Ermordeten sind aufgebrannt in die Gedächtnishaut der Deutschen, jetzt und immer.
Die Fahnen klirren im Wind. Welche umarmenden Gedichte und welch zärtliche Musik sind nie geschrieben und komponiert worden! Wie sehr würden sich Beethoven und Hölderlin schämen, wüssten sie, was unsere Väter und Großväter, die Mütter und Großmütter taten und was sie unterließen und wie viele Enkel und Urenkel immer noch wegsehen, nicht wahrhaben wollen, verschweigen und verdrehen, was in den meisten Familien bleiben wird: das Singen und Klagen, das Bitten und Flehen unserer Brüder und Schwestern, die nicht sterben wollen, die immer noch nicht sterben wollen, die bei uns bleiben.
Sie hören uns zu.

Geprägt von Schlussstrichmentalität

Über 20.000 Personen der SS waren in den KZs als Wachpersonal eingesetzt. Und es gab in Europa mit allen Außenlagern 1634 KZs. Eine unvorstellbare Anzahl. Seit den Nürnberger Prozessen vor Gründung der Bundesrepublik in den Jahren 1946 bis 1949, wo die "Hauptkriegsverbrecher" vor Gericht standen, prägte uns Deutsche die Schlussstrichmentalität.
Die Rechtsprechung und Strafrechtskommentarwerke halfen mit. Der Bundesgerichtshof vertrat nämlich bis vor fünf Jahren die sogenannte Animus-Theorie, wonach Täter der Massenmorde nur diejenigen sein konnten, welche die Tat als eigene gewollt hätten. Damit konnten sich die meisten freistellen und die eigene Tat dem höher gestellten in der SS-Hierarchie überantworten. Man war dann allenfalls Gehilfe der Mordtaten.
So blieb es sieben Jahrzehnte.

Die dunkle Bilanz der Justiz

Dieses Verhalten der Strafrechtspflege macht das Desaster bei der "Aufarbeitung" der NS-Morde deutlich. Nachdem nun fast alle Täter verstorben sind, und die allerletzten Prozesse gegen KZ-Wächter geführt wurden und werden, hatte der Bundesgerichtshof ein Einsehen und hat die Animus-Theorie aufgegeben und erkennt zurecht, dass maßgeblich für den Mittäter in den Todesfabriken das Erkennen und Handeln im Rahmen des staatlichen Gesamtauftrages der KZs war, nämlich die planmäßige Ermordung von Millionen Menschen. War dies gegeben, war der Tatbeitrag Mord.
Die Prozesse "Demjanjuk" und "Gröning" gaben die Wende. Zu spät. Viel zu spät.

Die "kalte Amnesie" der Politik

Diese Bilanz der Justiz wird noch dunkler mit Blick auf den ehemaligen NS-Staatsanwalt Eduard Dreher, der es als leitender Beamter im Bundesjustizministerium schaffte, eine Vielzahl der Gehilfen an den Massenmorden straffrei zu bekommen – durch das Verfahrenshindernis der Verjährung, das er 1964 geschickt in das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz einbaute.
Nicht verständlich bleibt jedoch, dass der Deutsche Bundestag das mit sich hat machen lassen und auch zu einem späteren Zeitpunkt diesen Skandal der "kalten Amnestie" nicht abgestellt hat.

Die Toten mahnen

Und was bleibt nun nach allem? Verzweiflung und Abscheu?
Nein. Deutschland ist ein Bürgerland, eines, das auch Geist, Kraft und Mut hat. Staatsbürger sind wir alle. Die Millionen von Auschwitz bleiben uns nahe, wie alle, die in Rauch aufgegangen sind, und die zu uns sprechen wollen. Hören wir ihnen endlich zu!

Matthias Buth wurde 1951 in Wuppertal geboren. Er ist Lyriker und Publizist und veröffentlichte zahlreiche Prosa- und Gedichtbände, 2019 die Sammlung mit neuer Lyrik "Weiß ist das Leopardenfell des Himmels", der sich im Frühjahr das Rumänien-Buch "Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer" anschließen wird. Der promovierte Jurist war bis Ende 2016 Justiziar im Kanzleramt bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und ist nunmehr Rechtsanwalt.

© Quelle: privat
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