75 Jahre Aufstand im KZ Sobibor

Der falsche Mythos vom wehrlosen Diaspora-Juden

Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung zum 70. Jubiläum des jüdischen Aufstandes im Konzentrationslager Sobibor am 14. Oktober 1943, aufgenommen 2013
Gedenken an die Revolte im Konzentrationslager Sobibor – von den insgesamt 600 bis 800 Aufständischen konnten rund 300 flüchten. © picture alliance/dpa/PAP/Wojciech Pacewicz
Von Jens Rosbach · 02.11.2018
Die Revolte im Konzentrationslager Sobibor im Jahr 1943 hatte zwei Ziele: Faschisten zu ermorden und der Welt die Wahrheit zu erzählen. Doch der Aufstand widerlegt auch die Metapher vom angeblich passiven Juden.
"Ich arbeitete im nördlichen Lager, da kam grad ein Zug mit Menschen an. Und als sie in die Gaskammern getrieben wurden, hörte ich die Schreie der Kinder. Das Gas strömte bereits. Ich hörte: 'Mama'. Mama hört sich in jeder Sprache gleich an. Dann hörte ich die Schreie von Frauen. Es war schrecklich – nicht die Angst vor dem eigenen Tod, aber nicht helfen zu können. Das war der Moment, als der Plan entstand."
Oktober 1943. Aleksandr Petscherski, ein sowjetischer Jude im KZ Sobibor, schart rund 40 Mithäftlinge um sich. Der Trupp bewaffnet sich mit Messern und Äxten – und baut eine Falle für die SS-Offiziere auf: Nacheinander werden vier Deutsche in eine Schneiderwerkstatt gelockt mit dem Versprechen, man habe besonders wertvolle Kleidung für sie bereit gelegt.
"Als der erste SS-Offizier hereinkam, wurde ihm ein Ledermantel gezeigt. Und als er ihn anprobierte, wurde er mit einer Axt erschlagen. Die Leiche wurde unter ein paar Sachen versteckt. Und dann liefen wir, um den nächsten Faschisten zu holen. Dieser Ledermantel erwies sich als dermaßen gut, dass wir alle vier Faschisten vernichten konnten."

"Um der Welt die Wahrheit zu erzählen"

Der Russe Petscherski ist von anderen, polnischen Juden ausgewählt worden, die Revolte anzuführen. Denn als ehemaliger Rotarmist verfügt er über militärische Erfahrung. Innerhalb einer Stunde töten seine Männer rund ein Dutzend SS-Leute sowie mehrere Trawniki, ukrainische Handlanger. Mit gestohlenen Waffen schießen sich die Aufständischen den Weg frei.
"Für mich war eigentlich absolut klar, dass eine Flucht aus diesem Lager unmöglich ist: 15 Meter Minenfeld drumherum, ein Graben voller Wasser, vier Reihen Absperrungen. Mein Ziel war also, diese Faschisten zu vernichten – und möglicherweise würden dann 15 oder 20 von uns in die Freiheit ausbrechen, um der Welt die Wahrheit zu erzählen."
Alexander Petscherski starb 1990, aber seine Erinnerungen sind kürzlich als Buch erschienen unter dem Titel "Bericht über den Aufstand in Sobibor". Dem jüdischen Soldaten ist es zu verdanken, dass – anders als geplant – von den insgesamt 600 bis 800 Aufständischen rund 300 flüchten konnten. Und dass der Welt gezeigt wurde, dass Juden auch kämpfen können.

"Die einzige Antwort an den Feind ist Widerstand!"

"Hitler will alle Juden Europas töten. Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen!", heißt es in einem Manifest, das bereits am 1. Januar 1942, also mehr als eineinhalb Jahre zuvor, im Getto von Wilna verlesen wurde. Schon damals taucht die Metapher auf von den angeblich passiven Juden. – "Es stimmt, wir sind schwach und hilflos, aber die einzige Antwort an den Feind ist Widerstand!"
Der Autor dieses Aufrufs, Abba Kovner, gehörte einer zionistischen Jugendbewegung an und leitete, als das Wilnaer Getto geräumt wurde, die Flucht in die umliegenden Wälder. Heute weiß die Forschung: Rund 1100 osteuropäische Gettos gab es damals – und in mindestens 26 Gettos kam es zu Widerstands-Aktionen. Zudem wurden drei KZ-Aufstände bekannt: in Sobibor, in Treblinka sowie eine Revolte im Krematorium von Auschwitz.
Nach Angaben von Natan Sznaider, einem Soziologen am Academic College in Tel Aviv, wurde allerdings nur der Aufstand im Warschauer Getto zum Symbol des jüdischen Widerstands. Ein KZ-Aufstand sei zwar viel schwieriger durchzuführen. Aber Sobibor zum Beispiel habe sich nicht zur Mythenbildung geeignet.
"Weil das Ziel des Sobibor-Aufstandes war die Flucht. Und man kann ja keinen Mythos auf einer Flucht aufbauen. Ich meine, da kann man Filme draus machen. Fluchtfilme sind immer sehr spannend. Aber man kann keinen Helden-Mythos auf einer Flucht aufbauen."

Zionisten verbreiteten Mythos vom "neuen Juden"

Hingegen hätten die Warschauer Getto-Rebellen, so der Professor, nicht flüchten, sondern ganz bewusst ein Widerstandszeichen setzen wollen. Unter den Hunderten Aufständischen seien auch junge Zionisten gewesen, die später Israel mit aufbauten. Dort hätten sie schließlich einen Mythos vom "neuen Juden" verbreitet, der ganz anders sei als der europäische Jude in der Diaspora.
"Also der diasporische Jude, der wehrlos ist, der sich nicht wehren kann, der sich nicht wehren will, der hilflos ist, und der neue Jude, den der Staat schaffen wollte, der also kampfbereit ist, nicht mehr wehrlos ist."
Das israelische Narrativ sei davon ausgegangen, dass Israel quasi schon 1943 gegründet wurde, beim Warschauer Gettoaufstand, so der Wissenschaftler.
"Deswegen ist ja der Souveränitätsbegriff in Israel heute so ein wichtiger Begriff, dass man also im Stande ist, sich zu wehren, dieses 'Nie wieder!'. Wobei bei 'Nie wieder!' natürlich nicht 'Nie wieder Faschismus', sondern 'Nie wieder Wir' gemeint ist, 'das darf uns nicht wieder passieren'. Politische Souveränität bedeutet ja, dass man imstande ist, Waffen zu tragen, dass man imstande ist, sich zu wehren."

Abwertung der europäischen Juden durch Ben Gurion

"Es gibt Äußerungen von Ben Gurion, der sinngemäß gesagt hat:' Naja, das mit dem Holocaust, das ist natürlich von Vorteil für unser Staatsprojekt. Weil jetzt völlig klar ist, dass Europa nicht sicher ist, dass nur Israel sicher ist für die Juden, dass Einwanderung Überleben bedeutet'. Und dazu gehört natürlich auch, dass man sagt: 'Nur wir in Israel kämpfen überhaupt!'"
Stephan Lehnstaedt ist Professor für Holocaust-Studien am Berliner Touro-College. Nach seiner Ansicht hat Ben Gurion, Israels erster Ministerpräsident, durch die Aufwertung des israelischen Juden die europäischen Juden abgewertet. Doch es regte sich Protest. So gab es im Nachkriegs-Polen, in jüdischen Zeitungen, heftige Debatten über den Warschauer Getto-Aufstand. Zofia Wóycicka vom Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften berichtet von den jüdischen Diaspora-Vertretern:
"Sie hielten den Zionisten entgegen: Nein, es waren nicht nur die Zionisten, die diesen Aufstand gemacht haben, es gibt nicht sowas wie eine Diaspora-Mentalität! Und der Aufstand ist kein Argument dafür, jetzt Polen oder Europa zu verlassen und einen Staat Israel aufzubauen."

"Wir wollten nicht wie Schafe getötet werden"

Die heimattreuen polnischen Juden wendeten sich gegen die Schafe-zur-Schlachtbank-Metapher. Für sie zählte auch der Arzt Janusz Korczak zum Widerstand, der freiwillig jüdische Waisenkinder in ein Vernichtungslager begleitet hatte – und dabei den eigenen Tod in Kauf nahm.
"Und das war ein Argument, dass damals schon in diesen Diskussionen gefallen ist: Also ist bewaffneter Widerstand nur die einzige Form von Widerstand? Und wahrscheinlich ist das in dem israelischen Narrativ etwas in den Hintergrund geraten."
"Natürlich hatte ich große Angst, zu töten. Doch manchmal muss man eben Dinge tun, die man freiwillig nicht tun würde. Wir wussten, dass wir dort keine Wahl hatten. Man würde uns töten. Doch wir wollten nicht wie Schafe getötet werden. Wir wollten wie Menschen sterben."
So erinnert sich der ehemalige jüdische Kämpfer Yehuda Lerner im "Sobibor"-Film des französischen Regisseurs Claude Lanzmann. Allerdings: von den rund 300 Sobibor-Flüchtlingen überlebten nur 50 bis 60 die NS-Verfolgung. Ein Grund dafür war auch der polnische Antisemitismus. Zwar gab es christliche Helfer, die– oft gegen Geld – Juden versteckten. Aber es gab auch Judenhasser, etwa in der nationalkonservativen Widerstandsgruppe Armia Krajowa. So berichtete später KZ-Überlebender Itzhak Lichtman:
"Eines Nachts nämlich, als eine Gruppe auf der Suche nach verstreuten jüdischen Partisanen war, töteten Mitglieder der Armia Krajowa acht unserer Leute und nahmen die Waffen an sich. Nur einem gelang es wie durch ein Wunder zu fliehen und zu uns zurückzukehren."

Aufgebauschte Rettungsgeschichten

Historikerin Zofia Wóycicka erklärt, dass nicht nur die Israelis, sondern auch die christlichen Polen das Schafe-zur-Schlachtbank-Motiv tradiert haben: Um den eigenen Antisemitismus in der NS-Zeit zu verbergen, hätten ihre Landsleute nach dem Krieg Rettungsgeschichten aufgebauscht, bis heute.
"Ein Problem mit diesen Retter-Erzählungen ist, dass sie sehr oft so erzählt werden: Es sind die passiven Juden, die sich ermorden lassen und es sind dann diese Nichtjuden, Polen in dem Fall, die ihnen helfen. Fast zu ihnen kommen und sagen: Lasst Euch helfen, und sie sagen: Nein, nein, vielleicht doch nicht! Ich übertreibe jetzt ein bisschen, aber so wurde es oft in diesen Narrativen dargestellt."
Zionisten, die den Mythos von den wehrlosen Juden propagierten, um sich selbst als Kämpfer aufzuwerten. Und Polen, die sich – im Kontrast zu den Opfern – als besonders aktive Helden sehen wollten. Auch in den USA setzte sich die Schlachtbank-Legende durch. Dazu beigetragen haben Zeitzeugenberichte – wie vom Sobibor-Überlebenden Tovi Blatt, der während des Aufstandes eine Gruppe orthodoxer Häftlinge gesehen hatte.
"Als wir wegliefen, stand die Gruppe dort, die wollten nicht weg. Und ich glaube, als die SS kam, haben sie gebetet, um auszudrücken: Ihr könnt uns ermorden, aber wir glauben an unseren Gott. Die wollten zusammen mit der Familie sterben."

Erfahrung jahrhundertelanger Verfolgung

Hat die jüdische Religion, besonders die Frömmigkeit der osteuropäischen "Shtetl-Juden", eine Passivität gefördert? Nach Ansicht von Holocaust-Forscher Lehnstaedt haben die wenigsten Juden aus religiösen Gründen stillgehalten. Viel stärker habe die Erfahrung jahrhundertelanger Verfolgung gewirkt. Zum Beispiel hätten Juden im Zarenreich gelernt, sich ruhig und unauffällig zu verhalten – um keinen Ärger mit dem Staat zu riskieren. So habe man später auch in den Gettos auf bessere Zeiten gehofft. Schließlich sei der Massenmord, der im Juli 1941 begann – also kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion – nicht vorhersehbar gewesen, betont Holocaustforscher Stephan Lehnstaedt.
"Mitte 1941 haben die Deutschen selber auch noch nicht an die industrielle Vernichtung gedacht. Das muss man sich immer vor Augen halten. Deswegen ist die Forderung nach mehr Widerstand einerseits ahistorisch und andererseits ist sie auch unrealistisch."
Dennoch warfen, jahrzehntelang, innerjüdische Kritiker den einst verfolgten Juden Passivität vor – und noch Schlimmeres: So sprach der US-Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, der einst selbst im KZ saß, von einer besonderen "Getto-Mentalität". Auch die jüdische, deutsch-amerikanische Publizistin Hannah Ahrendt verwendete den diffamierenden Begriff.
"Getto-Mentalität heißt, dass man sich nicht aktiv wehrt, dass man kooperiert. Dass man mit seinem Unterdrücker gemeinsam arbeitet."

Judenräte als Kollaborateure verunglimpft

Soziologie-Professor Natan Sznaider berichtet, dass Hannah Ahrendt vor allem die sogenannten Judenräte kritisierte, die von den Deutschen gezwungen worden waren, in den Gettos eine Selbstverwaltung aufzubauen. Die Ratsmitglieder seien zu Unrecht als Kollaborateure verunglimpft worden, etwa weil sie nicht zum Kampf aufgerufen hatten.
"Wenn Sie verantwortlich sind für eine Gemeinschaft von 3000 jüdischen Menschen, die in einem Getto lebt. Und Sie wissen, dass die Rote Armee 70 Kilometer von diesem Getto entfernt ist. Und Sie setzen sich zusammen mit den Anderen und sagen: Wir müssen noch drei Wochen überleben, wir müssen noch zwei Wochen überleben, wir müssen noch vier Wochen überleben. Was machen wir jetzt, wie kommen wir mit den Nazis klar? Wo geben wir nach und wo geben wir nicht nach? Das sind so die Dilemmata, die in eine ideologische Debatte nicht reinpassen."
Doch selbst im Getto gab es Gegenwehr. Der polnische Shoah-Überlebende Arno Lustiger zählte zu den Pionieren, die den jüdischen Widerstand erforschten und vor allem in Deutschland publik machten. Lustiger resümierte:
"Der Widerstand, der war eine Frage der Selbstbehauptung der Juden. Und selbst unter diesen schrecklichen Umständen hat es diesen Widerstand gegeben. Ich habe es dokumentiert in jedem besetzten europäischen Land."

Jüdischer Widerstand immer genauer nachgezeichnet

Lustiger, der kein Historiker sondern ein Autodidakt war, veröffentlichte 1994 das Buch "Zum Kampf auf Leben und Tod" über die gesamte Bandbreite jüdischer NS-Gegner: über KZ-Aufständische und Partisanen, aber auch über Saboteure, Fälscher, Archivare und Dichter, die nicht mit der Waffe in der Hand kämpften.
"Natürlich kann man von wehrlosen Menschen, die von niemandem unterstützt werden, kann man doch nicht verlangen, dass sie sich unter diesen schrecklichen Bedingungen auf große militärische Abenteuer einlassen. Es waren ja über 20 Millionen alliierte Soldaten erforderlich, um Nazideutschland in die Knie zu zwingen."
In den vergangenen 25 Jahren konnten Wissenschaftler die Formen des jüdischen Widerstandes immer genauer nachzeichnen. So kamen polnische Experten zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass bis zum Beginn des Massenmordes zehn Prozent aller Gettoinsassen versucht haben zu fliehen. Ein mutiger Schritt, betont die polnische Historikerin Zofia Wóycicka. Denn viele Juden seien geschwächt von Hunger und Krankheit – zudem sei die Flucht voller Gefahren gewesen.
"Sobald sie das Getto verließen, waren sie vogelfrei. Und jeder Deutsche und jeder Einheimische, sei es Pole oder Ukrainer, konnte sie töten, konnte sie erpressen – also das war eine gewagte Entscheidung, das Getto zu verlassen. Und die meisten von diesen zehn Prozent haben den Krieg nicht überlebt."
Ob in Sobibor, Treblinka oder im Warschauer Getto – der Berliner Historiker Stephan Lehnstaedt bilanziert: Es habe viel mehr jüdischen Widerstand gegeben als ursprünglich vermutet. Auch die Definition habe sich geändert. Heute betrachte die Forschung allein schon die Bewahrung der menschlichen Würde als eine Form der Gegenwehr.
"Wir dürfen ja auch nicht vergessen: Die deutsche Ordnung sieht am Ende für Juden nur noch den Tod vor. Das heißt: Wenn man das mal ganz scharf betrachtet, muss man ja sagen, dass schon Überleben ein Akt des Widerstands ist, weil man sich aktiv gegen die vorgesehene deutsche Politik richtet."
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