75. Festival d’Avignon

Triumph des Magisch-Weiblichen

04:57 Minuten
Isabelle Huppert eröffnete das 75. Internationale Theaterfestival in Avignon.
Eröffnet wurde das Festival d’Avignon mit einer Neuinszenierung von Anton Tschechows "Der Kirschgarten" mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle. © picture alliance / abaca | Aventurier Patrick/ABACA
Von Eberhard Spreng · 23.07.2021
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Das Theaterfestival in Avignon war in diesem Jahr geprägt von starken Regisseurinnen und feministischen Manifesten. Es begann mit Stücken über kollektiv erlebte Katastrophen und endete mit stilleren Abenden voller individueller Frauenschicksale.
Sie kommt gerade nach Hause, hat das Treppenhaus betreten und den Briefkasten geöffnet. Aber weiter geht sie nicht, denn sie hat bemerkt, dass vor ihrer Wohnungstür Menschen auf sie warten. Es sind die Eltern einer Schülerin, die sich vor Kurzem in der Schule aus dem Fenster gestürzt hat.
Gabrielle ist Französischlehrerin und hatte ein besonderes, aber auch ambivalentes Verhältnis zu dieser Schülerin. Den Eltern konnte sie bislang ausweichen, der Erwartung eines Schuldeingeständnisses, einer Erklärung oder eines Trostes.

Verteidigungsrede einer Lehrkraft

Marie N'Diaye, Prix-Goncourt- und Prix-Femina-Preisträgerin hat den Monolog "Royan: La Professeure de Français" für die Schauspielerin und Filmregisseurin Nicole Garcia geschrieben. "Daniela ist tot, und ich kann nichts dafür", sagt die Lehrerin. "Royan" ist die unfreiwillige Verteidigungsrede einer älteren Lehrkraft, die bislang alle Konflikte in ihrer Klasse souverän lösen konnte, mit der provozierenden, einer unheimlichen Naturkraft ähnelnden Energie dieser Außenseiterin aber nicht zurechtgekommen ist.
Wie unter dem Druck einer unausgesprochenen Anklage kehrt ihre Erinnerung zurück zur eigenen Kindheit im algerischen Oran, der Jugend in Marseille. N'Diayes komplexe und metaphernreiche Literatur schafft das psychologisch präzise Porträt einer Frau mit Schatten auf der Seele.

Geschichten von weiblichen Grenzerfahrungen

Die Uraufführung führt eine Frau vor, wie sie einsamer nicht sein kann. Geschichten von weiblichen Grenzerfahrungen – das prägte auch andere Stücke in der letzten Festivalwoche.
"Ich stand noch dreimal auf," sagt Lola Lafon im Hof des Musee Calvet, "und überzeugte mich davon, dass hier, drei Meter vor mir, wirklich etwas Unsichtbares, Glattes, Kühles war, das mich am Weitergehen hinderte." Als ruhige Meditation für Cello und menschliche Stimme hat Chloé Dabert Marlen Haushofers Roman "Die Wand" eingerichtet. Eine Radikalerfahrung weiblicher Einsamkeit, des Weltverlustes und Weltenendes.

Feministische Manifeste

Eine Geburt in Ton und Videobild steht am Anfang von "Une femme en pièces", mit der der ungarische Cineast Kornél Mundruczó seinen letzten Film für die Bühne adaptierte. Maja erlebt das Drama des Todes ihres Babys unmittelbar nach der Geburt und muss später in den Gesprächen mit Familienangehörigen ihr Recht auf eine eigene Traumabewältigung behaupten.
Gesellschaftliche Tabuisierungen dieser komplexen Erfahrung werden deutlich. Aber die Theaterversion ließ vermuten, dass hier beim Wechsel vom Film zur Bühne doch viel verloren ging.
Die letzte Festivalwoche bildet den Kontrapunkt zu den dystopischen Visionen weiblicher Regisseure vom Anfang der Theaterschau, denn an die Stelle kollektiv erlebter Katastrophen tritt nun das individuelle Schicksal, das persönliche Trauma.
Geradezu euphorische weibliche Selbstbilder zeichnet hingegen die Sizilianerin Emma Dante in "Misericordia", wo drei arme Prostituierte das behinderte Kind einer von ihrem Zuhälter zu Tode geprügelten Kollegin aufziehen. Und in "Archée" der Choreografin Mylène Benoits belebt ein internationales, weibliches Ensemble eine alte von Japanerinnen praktizierte Bogenschützenkunst für die Bühne wieder.
Das sind feministische Manifeste in einer immer noch von Männern beherrschten Welt. Lehrerin, Mutter, Sexarbeiterinnen bevölkern die Bühnen.

Nur ein queeres Stück im Programm

In diesem bewusst weiblichen Festival scheint die Frau als archaische Figur der Care-Arbeit in einer oft feindseligen Männerwelt. Das immer schon Magisch-Weibliche triumphiert. Ist das schon heteronormativ oder nur ein wenig altmodischer Feminismus?
Nur eine Produktion versuchte durch eine mutwillige Grammatik queere, intersexuelle Seinszustände für die Bühne zu bannen: "Pentilisé.e.s" – das ist ein Wort mit zwei Binnenpunkten, die im Französischen wie das Gendersternchen funktionieren und zugleich Pluralformen kennzeichnen. Eine Amazone als Zwitter, verkörpert mal von Frauen, mal von Männern.
Das 75. Festival d’Avignon war eines der Regiefrauen und weiblichen Ensembles. Und es bewies, dass dystopische Weltgemälde in der Kultur nicht unbedingt Ausgeburten einer pessimistischen männlichen Fantasie sind.
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