68 - damals in der DDR

Von Karin Hartewig |
Die DDR wusste politisches Kapital aus der Revolte von 1968 zu schlagen. Zum 1. Mai des Jahres vermeldete die Zeitschrift "NBI" stolz eine "Heerschau des Erfolges". In Ostberlin feierten Jung und Alt begeistert ihren Staat, während der Westen eine Welle des Protests erlebte. Mehr denn je fühlte man sich im Osten im Reinen mit sich selbst.
"Ostern in Berlin-West: Rote Fahne und Christenkreuz gegen Wasserwerfer der Notstandsdiktatoren." So titelte die "Neue Berliner Illustrierte", die Publikumszeitschrift der DDR, im April 1968. Dazu brachte sie im Großformat ein Foto, das im Osten künftig zum Symbol für die rebellische Jugend im Westen werden sollte.

Seltsam entrückt wirkt das Häuflein der Demonstranten, das sich auf dem Kurfürstendamm zusammendrängt, um der Wucht des Wasserstrahls standzuhalten. Längst sind die Kleider durchnässt und die Transparente durchgeweicht. Allein die Fahne, das riesige Holzkreuz und das Schild mit der Abrüstungsparole werden im flirrenden Nebel trotzig hochgehalten. Die Vorhut der Prozession hat sich um das Kreuz wie um eine Monstranz geschart, allen voran ein Hüne aus dem erzkatholischen Trier, 1,93 lang, Student an der FU und Rädelsführer des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Wie ein Schwert umfassen seine Hände das Kreuz.

So sehen keine Krawallradikalen aus. Das Foto verwandelt die Kombattanten der außerparlamentarischen Opposition, die "Enteignet Springer!" skandieren, in christliche Märtyrer. Standhaft ertragen, wird die äußerste Hilflosigkeit zur subversiven Gegenmacht. Die Momentaufnahme ergreift Partei für die scheinbar Unterlegenen im mutmaßlichen Polizeistaat. Soweit die Anmutung des Fotos in der Ostberliner Illustrierten. Augenzwinkernd ließ man sich auf die provokative Selbstinszenierung der Demonstranten ein. Der Rest war Frontberichterstattung.

Selbstlos war diese Parteinahme nicht. Die DDR wusste durchaus politisches Kapital aus der Revolte zu schlagen. Zum 1. Mai vermeldete die Illustrierte stolz eine "Heerschau des Erfolges". In der DDR feierten Jung und Alt begeistert ihren Staat. Unterdessen erlebte der Westen eine Welle des Protests. Tausende demonstrierten für den Frieden und gegen die Notstandsgesetze. Die akademische Jugend rebellierte gegen die USA. Sie gerierte sich als Avantgarde aller Befreiungsbewegungen. Ihre Selbstermächtigung schien vollkommen gerechtfertigt durch die deutsche Schuld, der sich die Väter-Generation im Westen angeblich nie gestellt hatte.

In der Revolte sah die veröffentlichte Meinung in der DDR den Preis für eine falsche Politik. Mehr denn je fühlte man sich im Osten im Reinen mit sich selbst: kein Generationenkonflikt weit und breit, Antifaschismus als Staatsdoktrin - selbstverständlich, Antiimperialismus und Solidarität mit Vietnam - Ehrensache. Selbstgefällig hielt man der Bundesrepublik den Spiegel vor. Die Schadenfreude war nicht zu übersehen: Durch die Gesellschaft des Klassenfeindes ging ein tiefer Riss. Da war er wieder, der bellende Tonfall des Kalten Krieges, aber nun mit neuem Selbstbewusstsein.

Die DDR-Medien führten ihren Lesern ein marodes Land vor. Verlässlich waren sie zur Stelle, um die schäbigen Hinterhöfe der kapitalistischen Fassade auszuleuchten: Entlassungen, Mietwucher, märchenhafte Profite und das Drogenproblem. Anhänglich begleiteten sie die eloquenten und die handgreiflichen Kämpfer gegen das System. Scheinheilig "entlarvten" sie die Aushöhlung demokratischer Rechte und entrüsteten sich über robuste Polizeieinsätze, obwohl jeder in der DDR wusste, dass solche Rechte im eigenen Staat gar nicht existierten und Regimegegnern kein Pardon gegeben wurde. Bis man 1969 zum 20. Jahrestag der doppelten Staatsgründung verächtlich befand: Dieses Land hat nichts zu feiern!

Umso sonniger erschien die DDR. Im Osten hörten die fünfziger Jahre so bald nicht auf. Eine Politisierung, wie sie die Bundesrepublik erlebte, fand nicht statt. Und die Presse blieb affirmativ und staatstragend. Ihren Lesern präsentierte sie eine heile Welt aus dem ideologischen Modellbaukasten - ein bescheidenes Universum der notorisch guten Laune. In der Regel blieb es bei beschaulichen Genrebildern des arbeitenden Volkes, hölzerner Protokoll-Berichterstattung und einer Propaganda des Frohsinns und der Festlichkeit. Die Einheit zwischen der Partei und "ihren Menschen" war anscheinend durch nichts zu erschüttern. Von Konflikten keine Spur. Zeitkritik gegenüber Institutionen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens - Fehlanzeige. Man verharrte im Trugbild einer Konsensgesellschaft aller Werktätigen und widmete sich - zu Unterhaltungszwecken - genüsslich der Skandalisierung des Westens.

In der Sicht der DDR auf "68" im Westen offenbart sich einmal mehr jene unerträgliche Mischung aus scheinheiliger Kritik und deplatzierter Selbstgefälligkeit. Dies sei allen gesagt, die heute eine Verklärung betreiben.

Karin Hartewig, Historikerin, geboren 1959 in München, ist freiberufliche Historikerin und lebt in Göttingen. Ihre Themen: Deutsche und Juden im 20. Jahrhundert, Biografien, Generationen, Fotografie und Journalismus. Veröffentlichte zuletzt zur visuellen Überwachung und zur Geschichte der Fotografie: "Das Auge der Partei. Fotografie und Staatssicherheit in der DDR" (2004) und "Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat" (zusammen mit Alf Lüdtke, 2004).
Karin Hartewig
Karin Hartewig© privat