62-Minuten-Single von Arca

Avantgarde - aber nicht mehr ganz vorn

09:16 Minuten
Arca bei einem Auftritt auf der Bühne mit dem Rücken zur Kamera, in einem Lichtstrahl mit Nebel
Wie schon in früheren Produktionen von Arca gibt es auch im neuen Werk keine herkömmlichen Songstrukturen, Strophen oder Refrains. © imago images / Agencia EFE / Quique García
Martin Böttcher im Gespräch mit Andreas Müller · 21.02.2020
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Drei Jahre nach ihrem gefeierten Album veröffentlicht Arca neue Musik: ein wahres Epos. Ihre aktuelle Single „@@@@@“ ist nämlich ganze 62 Minuten lang. Das Thema: Grenzüberschreitung. Die Musik ist aufregend, aber manche Sounds sind nicht mehr wirklich neu.
Hinter dem Namen Arca verbirgt sich ein Mensch, der nicht als Mann oder Frau bezeichnet werden will, sondern als nicht-binäre Musikerin und Künstlerin namens Alejandro Ghersi beziehungsweise in letzter Zeit Alejandra Ghersi. Arca kommt aus Venezuela, wohnt in London und ist bekannt geworden als experimentelle, radikale Produzentin für sich selbst, aber auch für andere große Stars wie Kanye West, Björk, Kelela oder Frank Ocean.
Drei Jahre nach dem letzten Album hat Arca nun zum ersten Mal wieder etwas Längeres veröffentlicht: ein einziges, mehr als eine Stunde langes Stück namens "@@@@@".

Komplexe Science-Fiction-Story

Die Single "@@@@@" sei "eine Art Science-Fiction-Hörspiel", meint Musikredakteur Martin Böttcher. Arca hat sich ein Universum ausgedacht, in dem nur das Piratenradio eine Möglichkeit ist, dem von künstlicher Intelligenz gesteuerten Überwachungsstaat zu entgehen. Der Moderator beziehungsweise die Moderatorin dieses Piratenradios heißt Diva Experimental und lebt in verschiedenen Verkörperungen in diesem Universum. Um Diva Experimental zu töten, muss man erst einmal all ihre Körper finden.
In der Musik gebe es, ähnlich wie schon in vergangenen Veröffentlichungen von Arca, keine herkömmlichen Songstrukturen, Strophen oder Refrains, sagt Böttcher. Vielmehr sei die Musik geprägt durch experimentelle elektronische Musik, Sprach- und Gesangsfetzen, verfremdeten Stimmen und einen schwer zu greifenden Rhythmus.
Hätte Arca "@@@@@" nicht explizit als Single veröffentlicht, so hätte man von diesem Stück aber auch von einem Mixtape oder DJ-Mix ausgehen können, meint Böttcher. Oder auch von einem kompletten Album, bei dem die einzelnen Tracks ineinander übergehen.

Kritik an Spotify & Co.

In Zeiten des Musikstreamings könne man diese Single auch als Kritik bzw. als Gegenentwurf auffassen: "Es lässt sich eben nicht so einfach zum nächsten Track skippen, wenn einem die Musik gerade nicht gefällt. Arca hat sich Mühe gegeben, also sollen wir uns auch Mühe geben", erklärt Böttcher.
Geld könnte Arca mit diesem Song auf Streamingplattformen ohnehin nicht verdienen. Vielmehr sei "@@@@@" wohl für Live-Shows "in Verbindung mit den Visuals und mit Arcas extremen Kostümen und Tanzschritten" gedacht und konzipiert.
Das Video zur Single würde dieses Interesse eindeutig wecken, findet Böttcher. Denn im Clip sieht man Arca auf einem Autowrack liegen, mit sechs an einer Melkmaschine angeschlossenen Brüsten, während sie auf einer Leinwand dahinter von einer sexualisierten Pose in die nächste wechsle.

Nicht mehr vorderste Avantgarde

Die Single "@@@@@" erwecke aufgrund der Länge, der experimentellen Sounds und der komplexen Story erst mal einen avantgardistischen Eindruck, so Böttcher. Allerdings spiele diese Musik nicht mehr in der vordersten Avantgarde mit. Denn einige Sounds seien schon seit mindestens zehn Jahren bekannt.
"Teile der Musik haben mich an das Dubstep-Genie Burial erinnert, diese Mischung aus knisternden O-Tönen, hochgepitchtem R'n'B-Gesang, dramatischen Synthieklängen." Auch die Zukunftsvisionen seien in der elektronischen Musik nicht mehr neu.
"Arca und die neue Musik ist aufregend: ja. Avantgardistisch: für den 'normalen' Pophörer ja", resümiert Martin Böttcher. Für die Elektronik-Szene aber vielleicht nicht mehr ganz so wie noch beim letzten Album 2017.
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