60 Jahre und der Weisheit letzter Schluss?

Von Jochen Staadt |
Am 8. Mai 1949, vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Oberkommandos der Deutschen Wehrmacht, beschloss der Parlamentarische Rat den Text des Grundgesetzes. Nachdem es von den Westalliierten genehmigt und von mehr als zwei Dritteln der beteiligten deutschen Länder angenommen worden war, trat das zunächst als vorläufige Verfassung gedachte Gesetzeswerk am 23. Mai 1949 in Kraft.
In der sowjetischen Besatzungszone verabschiedete eine provisorische Volkskammer am 7. Oktober 1949 die Verfassung der DDR. Sowohl das Grundgesetz wie auch die DDR-Verfassung bezogen sich auf die Weimarer Reichsverfassung, die vor 90 Jahren, am 11. August 1919, von Reichspräsident Friedrich Ebert in Kraft gesetzt wurde.

Die verfassungstreuen Kräfte der Weimarer Republik waren letztendlich zu schwach, um die parlamentarische Demokratie gegen ihre rechten und linken Feinde zu verteidigen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes zogen aus dem Untergang der Weimarer Demokratie die Konsequenzen und schränkten die Einflussmöglichkeiten der Bürger auf parlamentarische Entscheidungsprozesse und die Geschäfte der Bundesregierung stark ein. Es sollte keine Volksentscheide mehr geben, die von Gegnern der Republik missbraucht werden könnten. Die junge Bundesrepublik verstand sich als "wehrhafte Demokratie", die den rechten wie linken Verfassungsfeinden wenig Raum ließ und dem wankelmütigen Volkswillen mit erheblichen Misstrauen gegenüberstand. Vier Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus war das eine nahezu zwingende Logik.

Im Unterschied zum Grundgesetz blieb die erste Verfassung der DDR eine leere Hülle. Formal lehnte sie sich stark an die Weimarer Verfassung an. Aber die in der DDR-Verfassung noch enthaltenen allgemeinen demokratischen Postulate wurden nie zur gesellschaftlichen Realität. Im Jahr 1968 gab die SED der DDR eine neue sozialistische Verfassung, frei von allen Versprechungen der bürgerlichen Demokratie. Damit wurde die DDR-Verfassung der seit 1949 herrschenden realen SED-Diktatur angepasst.

Die mit dem "Bonner Grundgesetz" festgeschriebenen Werte und Rechtsnormen bewährten sich in den fünfziger und sechziger Jahren als stabile Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens. Als Willy Brandt 1969 zu Beginn seiner Amtszeit versprach, es solle nun mehr Demokratie gewagt werden, verband sich damit die Hoffnung auf eine stärkere Beteiligung der Bürger am politischen Tagesgeschäft. Doch es sollte noch einige Zeit ins Land gehen, bis das zur Gesetzesrealität wurde. Das Anwachsen von Bürgerinitiativen und überparteilichem Bürgerengagement hat bislang nur auf kommunaler und Länderebene zu Reformen geführt, auf Bundesebene aber traute der Gesetzgeber Volkes Stimme noch immer nicht so recht über den Weg. Zwischen den alle vier Jahre vorgesehenen Urnengängen geschieht nur etwas, wenn ein Bundeskanzler nicht mehr weiter kann, wie 1982 Helmut Schmidt, oder nicht mehr weiter will, wie 2005 Gerhard Schröder.

Nachdem vor 20 Jahren eine zivile Bürgerbewegung die zweite deutsche Diktatur überwunden hat und das Grundgesetz sich seither als Verfassung der wiedervereinigten Deutschen bewährt, dürfte nun eigentlich auch auf Bundesebene in der Berliner Republik mehr Demokratie gewagt werden.

Jochen Staadt, 1950 in Bad Kreuznach geboren, lebt seit 1968 in Berlin. Nach dem Studium der Germanistik und Politischen Wissenschaft an der Freien Universität promovierte er mit einer Arbeit über DDR-Literatur. Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen und internationalen Studenten- und Jugendbewegung der 60er-Jahre, zur DDR- und SED-Geschichte, zu Spionage in Ost und West sowie zur Beziehungsgeschichte zwischen beiden deutschen Staaten. Staadt ist Projektleiter beim Forschungsverbund SED-Staat an der FU und Autor der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Jüngste Veröffentlichung: "Die Zusammenarbeit zwischen dem MfS der DDR und dem kubanischen MININT".