60 Jahre nach Vernichtung, Zusammenbruch und Befreiung
Auch darin war sich die Diskussionsrunde auf unserem 38. Forum Pariser Platz einig: Gegenüber dem 50. Gedenkjahr 1995 erlebten wir in Deutschland diesmal eine unerhörte Zunahme der medialen Zeugnisse über den Zweiten Weltkrieg und sein Ende. Und das 60. Jahr begann damit:
Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Truppen das Vernichtungslager Auschwitz.
Niemand hatte diese Intensität erwartet. Natürlich gehört davon vieles zu jenem Grundton, der seit Jahren mehr oder minder gebetsmühlenhaft Fakten und ihre quasi amtliche Interpretation wiederholt. Was ihn manchmal kaum erträglich sein lässt, jedenfalls seine Akzeptanz erheblich behindert, ist ein spezielles Vokabular, sind Begriffe wie Erinnerungskultur, Gedenkkultur, Gewissenskultur, Anstand, Scham, Betroffenheit und Entsetzen. Es sind Vokabeln aus deutschen Sonntagsreden, deren inflationärer Gebrauch, deren inquisitorische Anwendung und moralische Überhöhung eher abstößt denn einnimmt.
Am 29. Januar 2005 erhielt meine letzte noch lebende Tante die offizielle Bestätigung vom Tod ihres Bruders im Kessel von Stalingrad.
Zu den positiven Überraschungen diesmal gehört die Flut zum Teil sehr persönlicher Erinnerungsbücher an jene Zeit. Es ist wohl die letzte Erinnerungswelle dieser Art. Sie macht uns sehr schmerzlich bewusst, dass es in weiteren zehn Jahren kaum mehr eine unmittelbare Erinnerung geben wird, keine direkte Zeugenschaft, kein - wie es Jorge Semprún in Buchenwald formulierte - kein lebendiges Gedächtnis mehr. Die Eltern, die Opfer waren, die Eltern, die Täter waren, die Eltern, die beides waren, sind dann wohl alle gestorben.
Am 11. April 1945 befreiten amerikanische Truppen das KZ Buchenwald bei Weimar.
Zu den hoffnungsvollen Seiten dieses Gedenkjahres gehört ebenso, dass wir die Gesinnungsvermessung an Hand des Begriffspaares Niederlage oder Befreiung überwunden haben. Der 8. Mai 1945 besiegelte eine militärische Niederlage, beendete die Vernichtungen des Krieges und der Politik, vollzog den Zusammenbruch aller staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung in Deutschland, befreite KZs, Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager von deutscher Gewalt und die Deutschen von ihrer eigenen Nazi-Diktatur. Darauf haben wir uns über die Jahre verständigt.
Am 16. März 1945 wurde Würzburg, dieses Florenz am Main, zerbombt und wurden meine Großeltern mit zwei Handkoffern aus einem Keller gerettet.
Auch der mit goldhagenschem Eifer betriebene Kampf um die Einteilung in Täter und Opfer verliert heute seine denunziatorische Schärfe, seine unbarmherzige und grelle Einfärbung in Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Doch haben wir es hier nicht mit Relativierungen zu tun, sondern mit historischer Besinnung auf alle Seiten jener Zeit vor 60 Jahren. Zwei neue Themen wurden nämlich in den Katalog des Erinnerns aufgenommen: die Bombardierung der deutschen Städte und die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Und im Jahresverlauf wird der Rückblick auf die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen 1955 aus sowjetischen Lagern dazutreten.
Ende April 1945 floh meine Mutter mit ihren drei Kindern auf einem Holzgaslastwagen aus Karlsbad im damaligen Sudetenland Richtung Dresden.
Die Enttabuisierung dieser Themen gehört ebenso zu den Aufarbeitungen jener, die bald nicht mehr sein werden. Und sie befreit das private und öffentliche Gedenken von einer unguten, ja gefährlichen psychologischen Schlagseite. Viel zu lange haben wir nur über die Schuld gesprochen und nicht die Sühne anerkannt. Über Bombardierung und Vertreibung zu reden, macht die deutschen Kriegsverbrechen nicht kleiner, aber wir können leichter mit beidem leben und uns besser an das eine wie an das andere erinnern. Denn ebenso gilt, das Ausmaß des Schreckens durch Bombardierung und Vertreibung läßt uns eindringlicher begreifen, was an verfluchten Taten ihnen vorausging.
In drei Tagen wird in Berlin das Holocaust-Mahnmal eingeweiht.
Geht man in Jerusalem vom Ölberg die kleine Straße hinunter zur Gethsemanekirche und blickt seitwärts über die jüdischen Gräberfelder, die sich weit über die Berghänge ausdehnen, erkennt man plötzlich Peter Eisenmans Vision. Dort über Jerusalem reihen sich die schlichten, einander sehr ähnlichen Steinsarkophage in graden Linien und stehen doch ein wenig krumm und schief da. Wie in Berlin. Dort am Ölberg über der Altstadt blickt man stets über die kalkgelb leuchtenden Sargfelder hinweg, fast wie über ein wogendes Kornfeld. So auch in Berlin. Aber hier wird man an einigen Stellen zwischen ihnen in das düstere KZ-Grau der Stelen eintauchen und für ein kurzes Erinnern fast verschwinden.
Niemand hatte diese Intensität erwartet. Natürlich gehört davon vieles zu jenem Grundton, der seit Jahren mehr oder minder gebetsmühlenhaft Fakten und ihre quasi amtliche Interpretation wiederholt. Was ihn manchmal kaum erträglich sein lässt, jedenfalls seine Akzeptanz erheblich behindert, ist ein spezielles Vokabular, sind Begriffe wie Erinnerungskultur, Gedenkkultur, Gewissenskultur, Anstand, Scham, Betroffenheit und Entsetzen. Es sind Vokabeln aus deutschen Sonntagsreden, deren inflationärer Gebrauch, deren inquisitorische Anwendung und moralische Überhöhung eher abstößt denn einnimmt.
Am 29. Januar 2005 erhielt meine letzte noch lebende Tante die offizielle Bestätigung vom Tod ihres Bruders im Kessel von Stalingrad.
Zu den positiven Überraschungen diesmal gehört die Flut zum Teil sehr persönlicher Erinnerungsbücher an jene Zeit. Es ist wohl die letzte Erinnerungswelle dieser Art. Sie macht uns sehr schmerzlich bewusst, dass es in weiteren zehn Jahren kaum mehr eine unmittelbare Erinnerung geben wird, keine direkte Zeugenschaft, kein - wie es Jorge Semprún in Buchenwald formulierte - kein lebendiges Gedächtnis mehr. Die Eltern, die Opfer waren, die Eltern, die Täter waren, die Eltern, die beides waren, sind dann wohl alle gestorben.
Am 11. April 1945 befreiten amerikanische Truppen das KZ Buchenwald bei Weimar.
Zu den hoffnungsvollen Seiten dieses Gedenkjahres gehört ebenso, dass wir die Gesinnungsvermessung an Hand des Begriffspaares Niederlage oder Befreiung überwunden haben. Der 8. Mai 1945 besiegelte eine militärische Niederlage, beendete die Vernichtungen des Krieges und der Politik, vollzog den Zusammenbruch aller staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung in Deutschland, befreite KZs, Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager von deutscher Gewalt und die Deutschen von ihrer eigenen Nazi-Diktatur. Darauf haben wir uns über die Jahre verständigt.
Am 16. März 1945 wurde Würzburg, dieses Florenz am Main, zerbombt und wurden meine Großeltern mit zwei Handkoffern aus einem Keller gerettet.
Auch der mit goldhagenschem Eifer betriebene Kampf um die Einteilung in Täter und Opfer verliert heute seine denunziatorische Schärfe, seine unbarmherzige und grelle Einfärbung in Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Doch haben wir es hier nicht mit Relativierungen zu tun, sondern mit historischer Besinnung auf alle Seiten jener Zeit vor 60 Jahren. Zwei neue Themen wurden nämlich in den Katalog des Erinnerns aufgenommen: die Bombardierung der deutschen Städte und die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Und im Jahresverlauf wird der Rückblick auf die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen 1955 aus sowjetischen Lagern dazutreten.
Ende April 1945 floh meine Mutter mit ihren drei Kindern auf einem Holzgaslastwagen aus Karlsbad im damaligen Sudetenland Richtung Dresden.
Die Enttabuisierung dieser Themen gehört ebenso zu den Aufarbeitungen jener, die bald nicht mehr sein werden. Und sie befreit das private und öffentliche Gedenken von einer unguten, ja gefährlichen psychologischen Schlagseite. Viel zu lange haben wir nur über die Schuld gesprochen und nicht die Sühne anerkannt. Über Bombardierung und Vertreibung zu reden, macht die deutschen Kriegsverbrechen nicht kleiner, aber wir können leichter mit beidem leben und uns besser an das eine wie an das andere erinnern. Denn ebenso gilt, das Ausmaß des Schreckens durch Bombardierung und Vertreibung läßt uns eindringlicher begreifen, was an verfluchten Taten ihnen vorausging.
In drei Tagen wird in Berlin das Holocaust-Mahnmal eingeweiht.
Geht man in Jerusalem vom Ölberg die kleine Straße hinunter zur Gethsemanekirche und blickt seitwärts über die jüdischen Gräberfelder, die sich weit über die Berghänge ausdehnen, erkennt man plötzlich Peter Eisenmans Vision. Dort über Jerusalem reihen sich die schlichten, einander sehr ähnlichen Steinsarkophage in graden Linien und stehen doch ein wenig krumm und schief da. Wie in Berlin. Dort am Ölberg über der Altstadt blickt man stets über die kalkgelb leuchtenden Sargfelder hinweg, fast wie über ein wogendes Kornfeld. So auch in Berlin. Aber hier wird man an einigen Stellen zwischen ihnen in das düstere KZ-Grau der Stelen eintauchen und für ein kurzes Erinnern fast verschwinden.