60 Jahre Grundgesetz oder: Sind wir in guter Verfassung?

Von Rainer Burchardt |
Wir haben eine gute Verfassung, aber sind auch in guter Verfassung? Diese doch wohl eher rhetorisch gemeinte Frage des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, hat in dieser Woche gewissermaßen die Aktualität eines Jubiläums bekommen. Auch wenn die zahllosen Erinnerungen an die Mütter und Väter des Grundgesetzes, nicht zu vergessen die gestrige Feier in Berlin, ein bedingungsloses „Ja“ suggerieren, so ist doch eines unverkennbar:
Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit klaffen ziemlich weit auseinander. Angesichts der augenblicklichen wirtschaftlichen und damit auch sozialen Verwerfungen ein offenbar unaufhaltsamer Prozess.

Mit anderen Worten: Jetzt steht dem Grundgesetz die vielleicht schwerste Bewährungsprobe der 60 Jahre seines Bestehens bevor. Und man kann nicht sicher sein, ob erneut die Gesetzesschrauber Hand anlegen wollen, an der wohl besten und freiheitlichsten Verfassung auf deutschem Boden legen wollen. So wie es schon mehr 50 Male seither geschehen ist.

Insbesondere die wichtigsten Artikel, nämlich die Grundrechte, sind immer wieder wenn auch nicht de jure so doch de facto zur Disposition gestellt worden. Die einschlägigen Stichworte lauten Hartz Vier, Onlinedurchsuchung, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Pressefreiheit, Sozialbindung von Eigentum und Asylrecht um nur die wichtigsten zu nennen.

Ist die Würde des Menschen wirklich so unantastbar, wie die Verfassung es feststellt? Hat nicht die soziale Einschränkung und Ausgrenzung Hunderttausender aus der so genannten Wohlstandsgesellschaft für viele ein ziemlich würdeloses Dasein beschert. Vom noch weiter auseinanderklaffen der Schere von arm und reich ganz zu schweigen.

Wie steht es denn wirklich um die in Artikel fünf festgehaltene Pressefreiheit,
wenn wie etwa im Fall Cicero unselige Erinnerungen an die widerrechtlichen Durchsuchungen im Zuge der Spiegelaffäre von 1962 erinnern. Damals wie jüngst ging es um rechtlich absolut unakzeptables Eingreifen staatlicher Behörden gegen Journalisten und ihre Informanten.
Dass die bislang sozusagen analogen Durchsuchungen und Redaktionsräumen
und Wohnungen inklusive Beschlagnahme von Unterlagen durch Onlinedurchsuchungen gewissermaßen zu einem elektronischen Hausfriedensbruch mutieren können, macht die Sache nicht besser. Hier wird ein ganze Branche, ja eigentlich das ganze Volk unter Generalverdacht gestellt. Kanzler Adenauer warf seinerzeit dem „Spiegel“ einen „Abgrund von Landesverrat“ vor.

Auch heute wartet die Gesellschaft noch vergeblich auf die völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau. Noch immer gibt es in vielen Berufen eben keinen gleichen Lohn für gleiche Arbeit und auch das emsige Herumdoktern an der Familienpolitik lässt die Benachteiligung von Frauen
unübersehbar bleiben.

Auch die Asylrechtsnovelle hat die Rechte von Flüchtlingen erheblich eingeschränkt. Und dies in einem Land, dessen Bürger auf der Flucht vor Hitler eben dieses Recht in vielen Nachbarländern gewährt bekamen. Zynischerweise wird jetzt auch noch die Tatsache, dass die Zuwanderungen ab- und die Ausweisungen zugenommen haben, als politischer Erfolg gewertet.

Besonders drastisch wird der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit
der Verfassung angesichts der unglaublichen Ausnutzung unseres Systems von den Managern und Bankern. Nach Jahrzehnten der privatisierten Gewinne werden die Verluste jetzt sozialisiert. Dass mit Dreistigkeit auch noch Boni in Millionenhöhe von diesen neuen Asozialen abgesahnt werden, erstaunt da kaum noch.

So, genau so, wird eine Demokratie demontiert. All dies ist trotz einer im Prinzip fabelhaften Verfassung in diesem Staat möglich. So gesehen ist es wohl nötig unser in die Jahre gekommenes Grundgesetz, das für ein Provisorium geschaffen wurde, einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen. Dies auch und gerade, um den Trend anzuhalten, dass viele politische Entscheidungen letztlich vor dem Verfassungsgericht landen. Da besteht Handlungsbedarf, um uns alle wieder in bessere Verfassung zu bringen.