60 Jahre Deutsche Länder

Von Thomas Wolgast |
"Hamburg - das ist mehr als ein Haufen Steine, Dächer, Fenster, Tapeten, Betten, Straßen, Brücken und Laternen. Das ist mehr als Fabrikschornsteine, Autogehupe - mehr als Möwengelächter, Straßenbahngeschrei und das Donnern der Eisenbahnen - das ist mehr als Schiffssirenen, kreischende Kräne, Flüche und Tanzmusik - oh, das ist unendlich viel mehr." (Wolfgang Borchert) Das sind im Länderreport 60 Jahre packender Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg.
Am 3. Mai 1945 wird Hamburg von britischen Truppen befreit. Die Stadt ist schwer zerstört. Trümmerberge durchziehen das "Tor zur Welt". Von den 563.533 Wohnungen, die man vor Kriegsausbruch in der Hansestadt gezählt hatte, sind nur noch 20 Prozent unbeschädigt geblieben.

Auch in Hamburg sind es vor allem die so genannten Trümmerfrauen, die die Stadt wieder aufbauen. Die im Mai 1945 heimkehrenden Kriegsgefangenen sind für Aufräumarbeiten zu geschwächt. Hauptsächlich die Trümmerfrauen bergen, so belegt eine Statistik, von Mai 1945 bis April 1947 rund 182 Millionen Ziegelsteine, 25.300 Fenster und Türen und 4300 Heizkessel. Im wirtschaftlichen Herzen der Stadt, dem Hafen, sind fast 90 Prozent aller Kaischuppen, 78,6 Prozent der Kräne und rund 42 Prozent aller Brücken zerstört.

Das von den Briten eingesetzte Parlament, die Bürgerschaft, arbeitet eine vorläufige Verfassung aus. Am 15. Mai 1946 wird sie verkündet. Bereits am 13. Oktober finden in Hamburg die ersten freien Wahlen seit 1932 statt. Zum Ersten Bürgermeister wird der Sozialdemokrat Max Brauer gewählt. In seiner Antrittsrede am 22. November 1946 betont Brauer:

"Von uns, als den Vertrauensträgern dieses Volkes, erwartet Hamburg ein klares Programm und eine Verwirklichung dessen, was im Wahlkampf als praktisches Ziel unserer Arbeit hingestellt worden ist. Wir können unsere Aufgaben nur meistern, wenn wir von der Wahrheit ausgehen. Nur sie kann uns frei machen und auf neue Wege führen. Wir müssen die Wahrheit suchen, auch wenn sie bitter ist."

Glücklich ist Brauer mit dem Wahlergebnis nicht. Weil die Hamburger, dem britischen Vorbild entsprechend, nach dem Mehrheitswahlrecht abstimmen mussten, errang die SPD 83 Mandate von insgesamt 120 Sitzen. Die CDU kam auf nur 16 Abgeordnete, die FDP auf sieben und die KPD auf vier. Der Wahlmodus verhindere die Entfaltung einer arbeitsfähigen Opposition, urteilt Brauer. Vor dem nächsten Urnengang 1949 beschließt die Bürgerschaft die Einführung des bis heute geltenden Verhältniswahlrechts. Brauer wird wiedergewählt. Die Oppositionsparteien erreichen diesmal 55 Mandate. In der endgültigen Verfassung von 1952 wird, wie im gesamten Gebiet der 1949 gegründeten Bundesrepublik, die Fünf-Prozent-Klausel eingeführt.

In jenen Nachkriegsjahren regte sich nicht nur das politische Leben. Auch die Kunst nimmt einen schnellen Aufschwung, nach den bleiernen Jahren der nationalsozialistischen Diktatur. Die große Schauspielerin Ida Ehre gründet im Dezember 1945 die Hamburger Kammerspiele. "Draußen vor der Tür", verfasst vom Kriegsheimkehrer Wolfgang Borchert, hier 1947 erstmals aufgeführt, wird seinerzeit eines der erfolgreichsten Stücke in Deutschland. Später gefragt, ob es schwierig gewesen sei, den Menschen, die im täglichen Kampf um Lebensmittel und Lebensraum standen, Kunst zu vermitteln, meinte Ida Ehre:

"Ich glaube nicht, dass ein Theater aufziehen schwieriger war als alles andere, aber geistige Nahrung zu verkaufen ist allerdings auch damals wahrscheinlich schwieriger gewesen. Nicht ganz so schwierig wie heute! Damals waren die Menschen wesentlich offener, sie haben Hunger gehabt, Hunger nach allem: Hunger nach einem guten warmen Essen und Hunger nach einer wirklich guten geistigen Kost."

Mit den britischen Besatzungstruppen ist auch Sir Hugh Carleton Greene nach Hamburg gekommen. Er ist Generaldirektor der für ihren fairen und investigativen Journalismus berühmten BBC. Nun soll Greene in Nord- und Westdeutschland einen demokratischen Rundfunk gründen, nach englischem Muster; also möglichst frei vom direkten Einfluss der Parteien und Regierungen.

In den Jahren 1945 bis 1948 baut Greene den Nord-West-Deutschen Rundfunk, NWDR, auf. Später zerfällt der Sender in den NDR und den WDR. Und Parteien und Politiker mischten sich mehr und mehr in die Belange des Rundfunks ein. Jahre später konstatiert Sir Hugh Carleton Greene enttäuscht:

"Ich finde die Einführung der Proporz in den deutschen Rundfunk eine sehr traurige Sache. Den Einfluss der Länderregierungen ist viel zu groß geworden."

Es geht schnell bergauf mit der Hansestadt Hamburg. Auf der Deutschen Werft werden bereits 1953 Schiffe mit einer Gesamttonnage von 219.000 Tonnen gebaut. Der NWDR produziert 1952 die ersten Fernsehsendungen. Und 1955 wird Gustaf Gründgens zum Generalintendanten des Schauspielhauses berufen. Er führt das größte Theater Deutschlands schnell zum Erfolg.

Gründgens fasziniert nicht nur in der Rolle des Mephisto in Goethes "Faust", er träg gern auch kleine Couplets des Dichters vor:

Gründgens (MEPHISTOPHELES, singt zur Zither): "Was machst du mir / Vor Liebchens Tür, / Kathrinchen, hier / Bei frühem Tagesblicke? / Laß, laß es sein! / Er läßt dich ein / Als Mädchen ein, / Als Mädchen nicht zurücke."

Bei den Wahlen am 1. November 1953 wird der SPD-Senat vom "Hamburg-Block" abgelöst. CDU und FDP errangen 62 Bürgerschaftssitze, die SPD kam auf nur 58. Erster Bürgermeister wird nun Kurt Sieveking von den Christdemokraten. Vier Jahre später siegt wieder Max Brauers SPD. Als Brauer 1961 erneut die Bürgerschaftswahl deutlich gewonnen hat, tritt er aus Altersgründen zurück. In der wichtigsten Phase des Wiederaufbaus der zerstörten Stadt hatte er, alle Amtszeiten zusammengerechnet, elf Jahre lang die Politik Hamburgs gelenkt.

"Vincinette" nennen die Meteorologen den Sturm, der sich im Winter 1962 über dem Atlantik zusammenbraut. Zuerst erreicht "Vincinette" die deutsche Nordseeküste und richtet dort schwere Schäden an. Der Wind bläst die Flut mit aller Macht in die Elbe. In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar steigt der Wasserstand in Hamburg auf nie zuvor gemessene 5,70 Meter über Normal. Streifenwagen der Polizei warnen die Bewohner der Stadtteile südlich der Elbe mit Lautsprecherdurchsagen. Auch der Rundfunk macht auf eine "sehr schwere Sturmflut" aufmerksam. Aber die meisten der 60.000 Bewohner der Elbinsel Wilhelmsburg schlafen bereits oder nehmen die Warnungen nicht ernst. Das tobende Wasser spült die Deiche fort und dringt in das Land ein. Am 17. Februar lädt Hamburgs Innensenator Helmut Schmidt zu einer ersten Pressekonferenz ein:

"Zunächst muss dann wohl gesagt werden, dass wir schon über 100 Tote, über 100 Leichen, und das es noch wesentlich ansteigen wird. Die Lage ist im Übrigen gekennzeichnet dadurch, dass seit gestern Vormittag nirgendwo mehr akute Lebensbedrohung besteht. Das Schwergewicht der Maßnahmen zur Katastrophenbekämpfung hat sich in Folge dessen eindeutig verschoben auf die Versorgung …"

Insgesamt 315 Menschen, die meisten in Hamburg-Wilhelmsburg, sterben an jenem Katastrophen-Wochenende. Für Innensenator Schmidt steht das Unglück am Beginn einer Karriere, die ihn bis ins Bundeskanzleramt führen wird. Er erweist sich erstmals als "Macher", als durchsetzungsfähiger Organisator, der schnell und effektiv handeln kann.

Oktober 1962. Der in den Nachkriegsjahren von Rudolf Augstein gegründete "Spiegel" berichtet über das Nato-Manöver "Fallex". Die Schlagzeile: "Bedingt abwehrbereit." Unter anderem werden detaillierte Aufmarschpläne der Nato veröffentlicht. Bundeskanzler Adenauer wittert "einen Abgrund an Landesverrat." Und auch Bundesverteidigungsminister Strauß erregt sich, zumal ihm der linksliberale "Spiegel" schon lange ein Dorn im Auge ist. Der Artikel enthalte militärisch streng vertrauliche Informationen, erklärt Strauß. Die Staatsanwaltschaft ermittelt prompt wegen "landesverräterischer Betätigung." Das Verlagsgebäude des "Spiegel" in Hamburg wird durchsucht. Mehrere leitende Redakteure werden festgenommen, unter ihnen der Autor Conrad Ahlers. Auch Augstein muss für kurze Zeit in der Zelle. Doch die Attacke von oben scheitert. Der "Spiegel" legt Verfassungsbeschwerde ein und hat Erfolg. Herausgeber Augstein äußert nach dem positiven Urteil der Richter.

"Ich glaube, dass wir erreicht haben, was wir erreichen wollten. Es wird eine solche Aktion künftig nicht mehr möglich sein, ganz abgesehen davon, dass an das Gewissen der Ermittlungsorgane künftig andere Anforderungen gestellt werden."

Das Hamburger Nachrichtenmagazin geht gestärkt aus dieser Affäre hervor, zumal sich herausstellt, dass Autor Ahlers seine Informationen überwiegend aus militärwissenschaftlichen Fachpublikationen bezogen hatte. Strauß tritt am 19. Dezember 1962 von seinem Ministeramt zurück.

Der Sozialdemokrat Herbert Weichmann setzt den Wiederaufbau der Stadt energisch fort. Es folgen die Bürgermeister Peter Schulz und Hans Ulrich Klose. Dessen Nachfolger Klaus von Dohnanyi hat vor allem mit der Besetzung einiger Häuser an der Hafenstraße Probleme. Aufmüpfige junge Leute hatten die leer stehenden Gebäude mit Blick auf die Elbe, die der Stadt gehörten, Anfang der Achtziger Jahre okkupiert. Straßenschlachten und brennende Barrikaden - die Hafenstraße wird als "rechtsfreier Raum" über die Bundesrepublik hinaus bekannt.

Dohnanyi bemüht sich um Einigung. Er verspricht, einen Pachtvertrag abzuschließen und wirbt um Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit. Zugleich stellt er die Bedingung: Innerhalb weniger Tage müssten die Besetzer die Befestigungen an der Hafenstraße abbauen und freien Zugang zu den Häusern ermöglichen.

"Das wäre dann das Wunder. Dann wird nicht geräumt und es gibt einen rechtswirksamen Pachtvertrag, damit die Bewohner ganz sicher sind - dafür verpfände ich mein politische Wort, dafür werde ich mein Amt als Bürgermeister in die Waagschale werfen."

Aber die so genannten Chaoten an der Hafenstraße geben nicht nach. Neue Zusammenstöße mit der Polizei folgen. Am 10. Mai 1988 verkündet Dohnanyi seinen Rücktritt als Erster Bürgermeister.

Dohnanyis Nachfolger, Henning Voscherau, bemüht sich um eine friedliche Lösung. Die Häuser werden saniert und bunt bemalt. Die Stadt schließt über die Jahre ihren Frieden mit den letzten der ehemaligen Besetzer, die dort geblieben sind.

Während der Auseinandersetzungen um die Hafenstraße nimmt ein Skandal seinen Lauf, der den Ruf der Elbe-Metropole als Medienstandort Nummer1 in der Bundesrepublik erheblich schädigen wird. Der "Stern", neben dem "Spiegel" das erfolgreichste Magazin Deutschlands, will die Tagebücher von Hitler entdeckt haben. In der Ausgabe vom 28. April 1983 veröffentlicht das Blatt den ersten Teil der "historischen Sensation". Die "Stern"-Verleger wittern ein Millionengeschäft. Am 5. Mai aber wird die Euphorie eingetrübt. Das Bundesarchiv meldet, das Buchpapier habe eine Polyesterstruktur, die es vor 1945 nicht gegeben habe. Herausgeber Henri Nannen, sichtlich geschockt, gibt am gleichen Tag eine Pressekonferenz:

"Wir müssen bei der gegenwärtigen Nachrichtenlage davon ausgehen, dass dieses Urteil des Bundesarchivs sehr ernst zu nehmen ist und das der Stern dem sich nicht entziehen kann. Wir denken gar nicht daran, auch nur noch eine Zeile zu veröffentlichen, die nicht absolut abgesichert und klar ist. Und wir müssen in diesem Augenblick davon ausgehen, dass man sich auf die Tagebücher, die so genannten Tagebücher, sich nicht mehr verlassen kann."

Kurze Zeit später kommt heraus, dass der Kunstmaler Kujau die angeblichen Hitler-Tagebücher gefälscht und sie Heidemann für viel Geld angedreht hatte. Die Chefredakteure des "Stern" treten zurück, Herausgeber Nannen geht Ende 1983 in den Ruhestand. Die Medienwelt spricht von der "Jahrhundert-Ente."

Im wirtschaftlichen Bereich vollziehen sich über Jahrzehnte in Hamburg große Veränderungen. Das Container-Zeitalter fegt die alten Hafen-Strukturen ins Reich der Geschichte. Hafenarbeiter werden kaum noch benötigt, dafür Kranbrückenfahrer für den Container-Umschlag. Container-Terminals als Logistikzentren verdrängen die traditionelle Hafenwirtschaft. Bürgermeister Henning Voscherau, er folgte Klaus von Dohnanyi, entwickelt den Plan einer "Hafencity": Ein Wohn- und Büroviertel, das sich um jene Hafenbecken, die nicht mehr benötigt werden, gruppieren soll.

Vom Rathaus gefördert wird auch der Flugzeugbau. Allerdings gerät Ortwin Runde, er hatte nach dem Urnengang im September 1997 Voscherau abgelöst, in heftige Auseinandersetzungen mit Umweltschützern und Anwohnern im Raum Finkenwerder südlich der Elbe. Dort wird die Produktion für verschiedene Airbus–Typen, darunter auch das neue Großraum-Flugzeug A 380, ausgeweitet. Der Senat bietet verschiedene Ausgleichsmaßnahmen. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen betont Runde auf einer öffentlichen Veranstaltung:

"Der A380 ist Hamburgs größtes Investitionsobjekt seit langem, vielleicht das größte überhaupt. Es kommt einem Quantensprung für die gesamte Metropolregion gleich."

Seit 1957, bis zur Wahl im Jahr 2001, stellten die Sozialdemokraten den Ersten Bürgermeister. Zunächst mit absoluter Mehrheit, später in Koalitionen mit der FDP, und seit 1997 mit den Grünen, in Hamburg GAL genannt. Mit Ortwin Runde endet die Ära der sozialdemokratischen Ersten Bürgermeister.

Runde war ein eher zurückhaltender Politiker, kein Mann der großen Töne. Der charismatische Amtsrichter Ronald B. Schill, der eine neue Partei, Schill-Partei genannt, gegründet hatte, erreicht beim Urnengang am 11. September 2001 auf Anhieb 19,3 Prozent der Stimmen. Die politische Sensation kommt einem Erdbeben gleich. Schill hatte die Kriminalität in den Mittelpunkt seiner Kampagne gestellt:

"Das sind größtenteils ehemalige SPD-Wähler, die sich jetzt aber verraten und verkauft fühlen von ihrer alten SPD, insbesondere durch die unzureichende Verbrechensbekämpfung grade in sozialen Brennpunkten, wo die wohnen."

Schill hatte Unrecht. Es waren eher CDU- und Nichtwähler, die ihm ihre Stimme gaben. Zwar wurde die SPD mit 36,5 Prozent erneut stärkste Partei, die CDU erzielte mit nur 26,2 Prozent eines der schlechtesten Ergebnisse seit ihrer Gründung. Aber für eine Koalition von CDU, Schill-Partei und Freien Demokraten reichte es. Ole von Beust wird zum Ersten Bürgermeister gewählt, 44 Jahre nach dem Christdemokraten Kurt Sieveking.

Wer Hamburg noch aus der Nachkriegszeit in Erinnerung hat, erkennt die Stadt kaum wieder. Die Hansestadt und ihre Umgebung gehören finanziell zu den reichsten Regionen der Europäischen Union. Autobahnumgehungen und der Elbtunnel lenken den Durchgangverkehr vom Zentrum und den meisten Wohnvierteln ab. Architektonische Grausamkeiten im Bild der Stadt halten sich in Grenzen. Aus der einstigen Trümmerwüste von 1945 hat sich eine lebendige, attraktive und grüne Metropole mit hoher Lebensqualität entwickelt.