58. Berliner Theatertreffen

Die Utopie des "Living Theatre"

04:37 Minuten
Der Schauspieler Julian Beck auf der Bühne 1976
Der Schauspieler Julian Beck auf der Bühne 1976: Nun erscheint auch "Das Theater leben", die wichtigste Schrift des legendären Theatermachers auf Deutsch. © imago stock&people
Von Gerd Brendel · 22.05.2021
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Das Theatertreffen gibt dem von Julian Beck und Judith Malina gegründeten "Living Theatre" viel Raum, das die Grenze zwischen „Spielen“ und „Leben“ aufheben wollte. Das Kollektiv hat die Straße zur Bühne gemacht und Widerstand in die Theater gebracht.
Am Ende von "Paradise Now" rufen die Schauspielerinnen und Schauspieler und das Publikum gemeinsam zur Änderung der Welt auf. Es sind die späten 60er-Jahre. In den USA und Europa gehen Studierende auf die Straßen, für eine gerechtere Welt, für gleiche Bürgerrechte, gegen den Vietnamkrieg und mitten drin das "Living Theatre".

Eigenes Theater ausdenken

Der Poet Julian Beck und die Schauspielerin Judith Malina hatten die Theatergruppe 1947 gegründet, die in diesem Jahr im "Focus Living Theatre" beim digitalen Theatertreffen breit gewürdigt wird - mit Diskussionen, einem Dokumentarfilm und Vorträgen. Auch der maßgebliche Text von Beck, "Das Theater leben", erscheint erstmals auf Deutsch.
Am Anfang standen die Stücke von Bertold Brecht, Jean Cocteau und Gertrude Stein, die das "Living Theatre" zum ersten Mal in den USA aufführte. Aber bald begannen Beck und Malina, sich mit ihrem Ensemble ihr eigenes Theater auszudenken.
"Was wir heute 'devised theatre' nennen, also Stücke, die ihren Stoff selber entwickeln, ihre Vorlage nicht mehr in der Literatur finden, sondern sich den Stoff selbst recherchieren", bringt es Thomas Oberender, Indendant der Berliner Festspiele, in seiner Würdigung auf den Punkt. Für ihn eine wegweisende Entwicklung.
"Die Formen, die damals entstanden, folgten der Idee, dass in der Gruppe der Theaterleute eine andere Form sozialer Realität gelebt wird", so Oberender. "Andere Geschlechterformen, andere Arbeitsformen, andere Entlohnungsformen. Und wenn das Publikum sich der Gruppe anschließt in diesen Aufführungen, macht es auch die Erfahrung einer anderen Form von Gesellschaft."

Leben ist Protest ist Theater

Es ist dieser Anspruch, den Theatermacher und Theatermacherinnen heute wieder neu für sich entdecken: Der Regisseur Milo Rau, der mit und in seinem Jesus-Film die prekären Lebensumstände seiner Laiendarsteller zum Thema macht, die als Flüchtlinge in Süditalien leben. Stadttheater, die neue Formen einer kollektiven Leitung ausprobieren.
Leben ist Protest ist Theater – von New York aus trägt das "Living Theatre" seine Botschaft in die Welt, fast ein halbes Jahrhundert lang. Mit Beck und Malina als Über-Paar: Kennengelernt hatten sich die beiden noch während des Zweiten Weltkriegs – in der New Yorker Schauspiel-Klasse von Erwin Piscator. Der Regisseur war vor den Nationalsozialisten nach New York geflohen, so wie Malina.
Malinas Vater war Rabbiner, die Mutter Schauspielerin. Sie hatten Deutschland schon vor der Machtergreifung Hitlers den Rücken gekehrt.

Malinas Erinnerung an die Weimarer Republik

Malina wächst auf mit der Erinnerung an eine Heimat, die zum Feindesland geworden war. Sie zitierte, als sie 1990 in Berlin zu Gast war, aus einem Kindergedicht von damals:
Ich glaub, ich war wohl nie ein Kind,
ein Kind, wie andere Kinder sind,
das keine Sorgen kannte;
denn wenn ich auf den Spielplatz ging
Geschrei und Lärmen mich umfing
"Geh Weg! Du bist ein Jude!"
Da packte mich ein wilder Zorn
Ich schnitt 'nen Stecken mir vom Dorn
und wolltst den Kerlen zeigen.
Da rief die Mutter: "Gottbewahr,
Du bringst uns alle in Gefahr!
Mein Kind, ein Jud muss schweigen"
"Aber ich schwieg nicht", blickte Malina zurück. "Ich habe davon gelernt, dass ich die Verantwortung habe. Und ich glaube das auch heute noch. Während dieses Krieges bin ich Pazifistin geworden."

Die Theaterutopie lebt weiter

2015 ist die Schauspielerin, Regisseurin, Theatererfinderin gestorben, dreißig Jahre nach Julian Beck. Ihr "Living Theatre" existiert immer noch, aber vor allem lebt die "Living-Theatre"-Idee von einer Theaterutopie weiter, in der das ganze Leben zur Probebühne einer neuen Gesellschaft wird.
Die Frage, die Malina 1990 ihrem Berliner Publikum stellte, sie muss bis heute immer wieder von neuem beantwortet werden: "Was bedeutet eigentlich die Freiheit? Die Freiheit, für die ich sterben würde, für die ich leben will. Das ist es doch nicht! Was ist es denn?"

Julian Beck, Das Theater leben. Das Manifest des Living Theatre
Verlag Theater der Zeit, 278 Seiten, 20 Euro.

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