"55plus ist mitten im Leben"

Moderation: Marie Sagenschneider |
Die Arbeitgeber sollen nach Ansicht der Gerontologin Ursula Lehr stärker auf Erfahrung und Wissen von älteren Arbeitnehmern zugreifen. Die Gründungsdirektorin des Instituts für Gerontologie an der Universität Heidelberg verwies auf positive Erfahrungen von Firmen, die auf Weiterbildung älterer Arbeitnehmer gesetzt hätten. Zugleich forderte Lehr ein flexibleres Renteneintrittsalter.
Marie Sagenschneider: Das Schlagwort von der vergreisten Republik macht die Runde, und das klingt deutlich negativ besetzt. Aber muss der demografische Wandel wirklich so pessimistisch begriffen werden? Tatsache ist, die Menschen in den Industriestaaten werden immer älter, gleichzeitig sinken die Geburtenraten. Und das wird Folgen haben für die Sozialsysteme, die Städteplanung oder den Arbeitsmarkt. Rente mit 67 ist hier nur ein Anfang.

Wie aber kann man diesen Veränderungen begegnen und sie ins Positive wenden? "Demografischer Wandel als Chance - Wirtschaftliche Potenziale der Älteren", so ist ein Kongress überschrieben, der gestern in Berlin begonnen hat und an dem auch Professor Ursula Lehr teilnimmt. Sie ist Gründungsdirektorin des Instituts für Gerontologie an der Universität Heidelberg, war Ende der 80er Jahre Bundesfamilienministerin und ist nun am Telefon von Deutschlandradio Kultur. Frau Lehr, ich grüße Sie!

Ursula Lehr: Schönen guten Tag, ich grüße Sie auch.

Sagenschneider: Worin, Frau Lehr, liegt denn die Chance des demografischen Wandels, der uns ja doch bisher immer eher als Schreckgespenst vor Augen gehalten wird?

Lehr: Zunächst einmal müssen wir sagen, wir haben eine enorme Erhöhung der Lebenserwartung, die wir doch eigentlich alle begrüßen, und vor allen Dingen deswegen begrüßen, weil wir nicht nur älter werden, sondern dabei auch gesünder sind, als es Generationen vor uns waren. Sicher bedauern wir den Geburtenrückgang, das ist ja die zweite Seite des demografischen Wandels. Aber die Seite des Älterwerdens - wunderbar. Und hier können wir nur eines tun: Wir müssen Frank Schirrmacher folgen, der sagt, wir brauchen eine Kalenderreform unseres Lebens, indem wir das Alter später beginnen lassen. Und damit hat er Recht. Warum zählt man heute schon in der 55plus-Generation zu den Senioren? Wir können doch nicht unser halbes Leben als Senioren verbringen. 55plus ist mitten im Leben. Und wir sollten da wirklich einiges tun, um auch gerade die so genannten jungen Alten, die doch mehr als Stütze unserer Gesellschaft anzusehen.

Sagenschneider: Aber was denn? Wie führt man eine Gesellschaft dahin, dass sie das auch als positiv begreift? Denn die Debatte über die Rente mit 67 hat ja gezeigt, dass viele Jüngere wie Ältere das tatsächlich mehr als Bedrohung empfinden und sagen, so habe ich mir das aber nicht vorgestellt.

Lehr: Da haben Sie Recht, das ist eine Veränderung in den letzten 30 Jahren. Früher war es so - was heißt früher, in den 60ern, Anfang der 70er war es so, dass man den Ruhestand gefürchtet hat und darin den Anfang vom Ende sah. Heute hingegen sieht man darin den Beginn einer dritten Lebensphase, die man noch richtig genießen will. Und das ist natürlich die Frage, ob das so sinnvoll ist bzw. ob man ihn nicht auch noch genießen kann, selbst wenn man dabei etwas tut - sei es im Beruf, sei es im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements.

Und hier müssen wir eines wissen: Ich bin sehr für eine Flexibilität der Altersgrenze, ich bin sehr dafür, dass man den Ruhestand - das schrecklichste Wort übrigens -, dass man also die Altersgrenze nach oben versetzt, sofern Arbeit da ist und sofern der Einzelne dazu gesund genug und fähig ist. Und um Letzteres zu erreichen, brauchen wir eine berufsbegleitende Weiterbildung, dürfen nicht, wie es bisher oft geschieht, sagen, ja, der 40-Jährige, 45-Jährige, den brauchen wir nicht mehr zu Weiterbildungsmaßnahmen schicken - auch das lohnt sich - und auch noch den 55-und 60-Jährigen.

Denn wissen Sie, eine Berufstätigkeit, die weder überfordert noch unterfordert, ist die beste Vorsorge für ein gesundes Alter. Durch den Beruf sind wir gezwungen zu körperlicher Aktivität, unsere grauen Zellen zu bewegen, und schließlich bringt der Beruf Sozialkontakte, wir kommen mit anderen Menschen zusammen. Und gerade körperliche, geistige und soziale Aktivität sind die Präventionsmaßnahmen für ein Altwerden bei Wohlbefinden.

Sagenschneider: Was aber natürlich auch heißt, dass man ein Leben lang oder sehr, sehr lange aktiv oder zumindest lernbereit sein muss, was ja gleichzeitig auch anstrengend ist, zumal unsere Lebenswelt ja von einer ziemlichen Beschleunigung geprägt ist.

Lehr: Ja, aber macht Spaß. Natürlich ist es anstrengend, aber es macht Spaß. Warum sollen denn 60-, 70-, ja ich würde auch sagen 80-Jährige nicht noch den Zugang zum Internet erlernen, nicht den Zugang zum PC, und sie können es. Vielleicht dauert es ein bisschen länger, als es bei Jüngeren der Fall war. Aber sie schaffen es. Und wie schön ist es, wenn sie sich damit eine neue Welt erschließen.

Sagenschneider: Was, Frau Lehr, bedeutet der demografische Wandel für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes, denn es gilt ja so die Faustregel: Innovation, die kommt von den Jungen. Also verlieren wir da nicht auch im internationalen Wettbewerb mit einer alternden Gesellschaft oder kann man das irgendwie auffangen?

Lehr: Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen da ins Wort falle. Tatsache ist, es gibt keine einzige Studie, die nachgewiesen hat, dass nur junge Leute innovationsfähig sind. Analysieren Sie mal die Erfindungen, Entdeckungen, die gemacht wurden in den letzten 100 Jahren, und Sie werden sehen, dass die vielfach gemacht worden sind in einem Alter jenseits der 50. Also so stimmt das nicht, nur eines ist wahr: Innovation, Ausprobieren, kreativ sein kann man, wenn eine gewisse Sicherheit gegeben ist. Und wenn der schon 55-Jährige rechnen muss, ich werde bald abserviert, dann wird er kaum etwas wagen, etwas Neues zu machen, obwohl er absolut dazu fähig ist.

Sagenschneider: Hier werden also die Unternehmen gefragt, sich auf diesen Wandel einzustellen. Haben Sie denn den Eindruck, dass die das schon verinnerlicht haben oder ist es bislang nur eine Minderheit?

Lehr: Es ist eine Minderheit, aber diejenigen, die es gemacht haben, die singen geradezu Loblieder von den älteren Ingenieuren, die man beispielsweise viel eher in andere Länder schicken kann, die viel eher bereit sind, mal drei, vier Wochen von Zuhause weg zu sein, als es die Jüngeren sind. Diejenigen - es gibt da einige Firmen in Baden-Württemberg, die da große Erfahrungen gemacht haben - sind des Lobes voll.

Sagenschneider: Wie, Frau Lehr, werden sich denn die ganz Jungen auf diese Entwicklung, auf den demografischen Wandel einstellen müssen, also die, die jetzt erst geboren werden und die eine 50 Prozent-Chance haben, 100 Jahre alt zu werden?

Lehr: Für die wird es von vornherein selbstverständlich sein, dass sie länger arbeiten, aber ich würde das nicht als ein Muss sehen, sondern als ein Länger-arbeiten-Dürfen. Natürlich müssen wir Wege finden, dass wir dann also flexibel in jeder Hinsicht sind, auch flexibel bezüglich der Arbeitszeit und dergleichen und der Unterbrechungen, um wieder Neues zu lernen und auch um Freizeit zu genießen. Die jetzt geboren werden, die werden nicht mehr die geraden Berufsbiografien haben, die es jetzt bei den Älteren noch gibt. Man wird vielmehr darauf vorbereitet sein, Lernen zu lernen und dann umstellungsfähig flexibel zu sein, um heute diesen und morgen jenen Job zu machen.

Sagenschneider: Vielleicht wird es aber auch die Generation sein, die gerade wieder einen gradlinigen Karriereweg haben wird, weil sie natürlich umworben werden von den Unternehmen, denn es fehlt ja dann an Fachkräften.

Lehr: Da haben Sie Recht. Das setzt natürlich voraus - und das ist überhaupt das A und O und die Konsequenz auch des demografischen Wandels oder genauer die Konsequenz des Geburtenrückgangs -, dass diejenigen, die geboren werden, eine erstklassige Ausbildung erfahren. Und hier muss auf dem Bildungssektor noch sehr, sehr viel getan werden. Und diese Ausbildung beginnt bereits im Kindergarten. Und diese Diskussion muss weitergehen in wirklich qualifizierter Schulausbildung. Wir müssen auch schauen, ob wir nicht die lange Schulzeit etwas verkürzen können. Wir in Deutschland haben die ältesten Abiturienten und die jüngsten Rentner. Also wir müssen Schulzeit verkürzen, wir müssen früher und gezielter in den Beruf hineingehen und dann auch früher unseren Mann, unsere Frau stehen.

Sagenschneider: Ursula Lehr, die Gründungsdirektorin des Instituts für Gerontologie an der Universität Heidelberg. Frau Lehr, ich danke Ihnen.