50. Todestag von Friedensnobelpreisträger Dominique Pire

Er schuf ein "Europa des Herzens"

Friedensnobelpreisträger Dominique Pire (1958) vor einer Europakarte.
Zuflucht für die Gestrandeten des Zweiten Weltkriegs: Pater Dominique Pire 1958 vor einer Europakarte mit den Standorten seiner Flüchtlingsdörfer. © imago/ZUMA/Keystone
Von Gunnar Lammert-Türk · 27.01.2019
1914 floh Pater Dominique Pire als Kind vor deutschen Soldaten nach Frankreich. Nach 1945 gab er tausenden Kriegsflüchtlingen mit seinem Hilfswerk ein neues Zuhause. Vor 50 Jahren starb der Pater, der für sein Engagement den Friedensnobelpreis erhielt.
"Ich bin müde, ich habe Halsschmerzen, ich gehe, ich schlafe. Zwei Tage und zwei Nächte im Güterwagen. Anhalten in Rennes in der Bretagne. Man musste anhalten, da ich Fieber hatte. Man beobachtet uns, man bedauert uns, man hilft uns."
So erinnerte sich Dominique Pire als Erwachsener an den August 1914. Als Vierjähriger verließ er mit seinen Eltern die Heimatstadt Dinant in Belgien, um in Frankreich Zuflucht zu suchen. Gerade noch rechtzeitig. Sie entkamen so dem Massaker, das deutsche Soldaten einen Tag nach ihrer Flucht in Dinant verübten. Davon erfuhr Dominique Pire erst viel später. Was er damals nicht deutlich hätte benennen können, war ihm zum Zeitpunkt der Erinnerung klar.

Ein Mensch auf der Flucht und seine Mission

Pater Pire: "Ich bin ein Mensch auf der Flucht, ein Heimatvertriebener. Aber ich weiß es nicht. Ich werde es erst 35 Jahre später erfahren und verstehen, als ich meine Brüder in den Auffanglagern sah."
Friedensnobelpreisträger Dominique Pire (links) im September 1959 mit Albert Schweitzer (rechts).
Friedensnobelpreisträger Dominique Pire 1959 mit Albert Schweitzer.© picture-alliance / dpa / DB AFP
35 Jahre später, das war 1949. Und die "Brüder in den Auffanglagern", die Dominique Pire an seine Flucht als Kind erinnerten, waren das Treibgut des Zweiten Weltkriegs. Fünf Jahre nach seinem Ende hausten sie als sogenannte Displaced Persons, Menschen ohne Heimat und Wohnsitz, in Lagern der Internationalen Flüchtlingsorganisation in Österreich.

Arbeitskräfte im Auffanglager gesucht

Pire, inzwischen Dominikaner und Pfarrer in Belgien, hatte im Januar 1949 von einem amerikanischen Offizier, der selbst ein Lager in Kufstein geleitet hatte, von ihnen erfahren. Der Offizier beschrieb die Zustände dort und beklagte, dass die Westalliierten, die die Lager betrieben – vor allem die USA, Australien und Kanada – weniger das Wohl der Insassen im Blick hatten als eigene Interessen.
"Im Grunde ging es darum, Arbeitskräfte zu gewinnen. Das heißt, diese Länder oder Vertreter dieser Länder sind durch die Lager gezogen und haben nach Fachkräften geschaut. Das hieß in der Zeit vor allen Dingen körperlich Geeignete. Es ging ganz knallhart um die Auswahl von Menschen oder Selektion, kann man vielleicht sogar sagen", ...
... erklärt der Dominikaner Bernhard Kohl, der sich mit seinem Ordensbruder Pire befasst hat. All jene, die für die Arbeiten in den Ländern der Lagerbetreiber nicht geeignet waren – weil sie zu krank waren, zu alt, zu schwach oder keine Verwandten dort hatten –, blieben auf der Strecke. Pire machte sich ein Bild von ihrer Lage, als er wenige Wochen nach dem Vortrag vierundzwanzig Auffanglager aufsuchte.

Europa-Dörfer bringen Bevölkerung und Gestrandete zusammen

Noch im selben Jahr schuf er eine Organisation, um ihrer Not zu begegnen. In der Folge gewann er 18.000 Menschen als Paten für die Gestrandeten und schuf Heime für die Alten unter ihnen. Und er sorgte dafür, dass sie wieder einen festen Ort fanden, wo sie leben konnten. Zu diesem Zweck gründete er sogenannte Europa-Dörfer.
Bernhard Kohl: "Es wurden Häuser gebaut. Es ging ja auch darum, dass da dann auch eine gewisse Struktur vorhanden war. Ich denke, man muss sich das Ganze schon eher noch so ein bisschen wie ein Lager vorstellen, also es hat schon diesen Charakter noch. Aber Pires Idee war, weit darüber hinaus zu gehen. Weil die Vorstellung war ja, nicht eben so einen abgetrennten Bereich zu bilden, sondern das sollte sich ja integrieren, mit der Bevölkerung, die dort schon lebte, zusammenkommen."
Pire ließ die Europadörfer in Städten errichten wie Stadtviertel, in unmittelbarer Nähe bereits bestehender Wohngegenden. Das stieß zunächst auf manchen Widerstand. Dennoch entstanden von 1956 bis 1962 sieben Europa-Dörfer – fünf in Deutschland und je eins in Österreich und Belgien. Pire war es so gelungen, den Heimatlosen eine neue Bleibe zu geben. Und es fanden nicht nur die am Aufbau der Europa-Dörfer beteiligten Menschen näher zueinander – nach und nach kam es auch zu einer Annäherung zwischen den Alteingesessenen und den zugezogenen einstigen Flüchtlingen. Pire beschrieb es später so:
"Während ich meine besten Kräfte für die entwurzelten Brüder und Schwestern einsetzte, merkte ich langsam, wie die Menschen, die an etwas Gemeinsamem arbeiteten, sich schätzen lernten. Mein Werk, das seit 1949 'Hilfe für Heimatvertriebene' hieß, bekam ein neues Gesicht und wurde zum 'Europa des Herzens'."

Europa sollte sich nicht der weltweiten Not verschließen

Dieses "Europa des Herzens" verstand Pire als notwendige Ergänzung zum Europa der Wirtschaft und der Politik, der Verwaltung und der Bürokratie. Ein Europa, das sich der Not nicht verschließt, weder im eigenen Bereich noch in anderen Teilen der Welt. Pire rief deshalb 1959 die Organisation "Europas Herz für Welthilfe" ins Leben, um für den weltweiten Einsatz gegen Existenznot und Hunger sowie gegen Krieg und Gewalt zu mobilisieren. Der zweiten Aufgabe diente auch Pires 1960 eröffnetes "Mahatma Gandhi International Peace Center" im belgischen Namur. Teilnehmer aus aller Welt erlernten hier den "geschwisterlichen Dialog". Pire meinte damit die auf gegenseitiger Achtung beruhende Suche nach Wahrheit zur Konfliktbewältigung, bei Anerkennung abweichender kultureller und weltanschaulicher Auffassungen. Diese neue globale Verständigung lag in seiner Überzeugung von einer trotz aller Verschiedenheit bestehenden Gleichheit der Menschen begründet. Seinem Freund und Mitstreiter Charles Dricot gegenüber fand er dafür einfache Worte:
"Ich habe die Bibel gelesen und dabei gelernt, dass alle Menschen gleicher Abstammung sind. Zudem glaube ich an einen einzigen Gott, den Vater aller Menschen. Durch ihn bilden alle eine einzige Familie, in der alle gleich sind. Das sind die Quellen, aus denen ich schöpfe."
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