50 Jahre "White Album" der Beatles

Das große Missverständnis der Popgeschichte

Die Konterfeis der Beatles nebeneinander
Die Beatles im Jahr 1968 - das Jahr, in dem sie sich nach Herzenslust austobten. © imago/UPI Photo
Von Marcel Anders · 09.11.2018
Das "White Album" der Beatles gilt als eines der einflussreichsten Werke der Popkultur – aber auch als eines der missverstandensten. Das meint jedenfalls Giles Martin, Sohn von Beatles-Produzent Sir George, der es zum Jubiläum neu remixt hat.
"Ich denke, die Beatles wollten die größte Band der Welt werden. Daran haben sie alles gesetzt. Doch als sie ihr Ziel erreichten, mussten sie feststellen, dass es gar nicht so toll war. Also entwickelten sie ihre eigene verrückte Realität voller bunter Farben – ihr 'Strawberry Fields'. Als auch das langweilig wurde, konnte es nur noch 'weiß' werden – im Sinne von leer."
Eine revolutionäre These, die Giles Martin hier aufstellt – und die im krassen Gegensatz zu allem steht, was in den letzten 50 Jahren über das "White Album" und seine Schöpfer John, Paul, George und Ringo geschrieben wurde. Nämlich, dass sie im Herbst 1968 auf dem Höhepunkt ihres Schaffens gewesen wären – was sich in einem opulenten Doppelalbum manifestiert hätte.

Verloren in den eigenen Ambitionen

Laut Martin Junior, seit Mitte der 2000er verantwortlich für den Backkatalog der Beatles, eines von vielen Missverständnissen im Zusammenhang mit diesem Werk. Es sei der Anfang vom Ende gewesen: Eine Band, die sich in ihrer kreativen Vielfalt und in ihren Ambitionen verliert:
"Das Tempo, das sie vorgelegt haben, konnten sie nicht durchhalten. Und das 'White Album' war der Höhepunkt dieser Entwicklung: Dieses Fiebrige, Verrückte, das zu 30 Stücken führte. Plus die Sachen, die sie nicht aufgenommen haben. Wie 'Let It Be' oder 'Jealous Guy'. Es war eine rastlose Kreativität, die sie auszeichnete. Und deshalb beruht die Trennung der Beatles allein auf der Tatsache, dass ihre Flamme zu hell brannte. Ich meine, 210 Songs in sieben Jahren?"

Die Band tobte sich aus

Diese rastlose Kreativität, wie es Martin nennt, schlägt sich in einem musikalischen Sammelsurium nieder, das keine Einheit bildet und kein Konzept aufweist: Rock´n´Roll, Ska, Folk, Vaudeville neben lupenreiner Avantgarde in Stockhausen-Manier - ein regelrechtes Austoben. Das gilt auch für die Texte: Eine bissige Auseinandersetzung mit der Welt im Jahr 1968 – mit Vietnamkrieg, Studentenprotesten und den Morden an JFK und Martin Luther King.
"Was das betrifft ist das 'White Album' sehr unterschätzt. Dabei handelt selbst ein netter Song wie 'Blackbird' von Frauenrechten. Und 'Happiness Is A Warm Gun' ist angesichts der ständigen Schießereien in den USA aktueller denn je. Es ist ein ironischer Song – mit viel Sprachwitz. Wie das ganze Album, das etliche kulturelle Referenzen aufweist. Es ist wie ein Schnappschuss des Jahres 1968 – und das mit Abstand mutigste Beatles-Album. Es hat etwas davon, als hätten die Patienten das Irrenhaus übernommen."

Ein Manifest der Gegenkultur?

Eine künstlerische Entwicklung, die – so Martin – für Beatles-Fans und für die meisten Menschen im Jahr 1968 kaum nachzuvollziehen war – weil sie so rasant und radikal war. Gerade noch das psychedelisch-bunte "Sgt Pepper", im nächsten Moment ein nihilistisches Statement zur Lage der Welt. Das hat für Unverständnis und fatale Fehlinterpretationen gesorgt. LSD-Pabst Timothy Leary erkannte im "White Album" ein Manifest der Gegenkultur. Sektenführer Charles Manson die Anleitung zum Mord. Alles wegen eines ruppigen Songs namens "Helter Skelter" – auf Deutsch: "Holterdipolter" – der nur ein Gag sein sollte.
"'Helter Skelter' ist eine typische McCartney-Nummer, mit der er auf die Meldung in einer Zeitung reagierte. Da hieß es: The Who seien die lauteste Band der Welt. Sie hätten bei ihrem Auftritt im Crystal Palace derart aufgedreht, dass die Fische in einem nahegelegenen Teich gestorben seien. Pauls Antwort darauf war: 'Die größte und lauteste Band der Welt sind wir!' Das Stück war seine witzige Reaktion auf diese Meldung."

Neue Deluxe-Edition für den Markt

Das "White Album" als großes Missverständnis der Pop- und Rockgeschichte. Rechtzeitig zum 50. Dienstjubiläum hat Martin das Werk auf den neuesten technischen Stand gebracht und mit unveröffentlichten Outtakes, Demos und akustischen Versionen aufgestockt. Das Ergebnis ist eine 7-CD-Box mit 107 Stücken, die natürlich nicht nur Geniestreiche umfasst, aber das Spiegelbild einer Welt im Umbruch liefert – vom Sommer der Liebe und von den Swinging Sixties in eine düstere Ära der Gewalt, des Kriegs und des Konservativismus.
Ein Schelm, wer eine Parallele zu 2018 zieht.
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