50 Jahre Regierungserklärung von Willy Brandt

Was heißt heute mehr Demokratie wagen?

04:20 Minuten
Bundeskanzler Willy Brandt gibt am 28. Oktober 1969 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn eine Regierungserklärung ab.
Willy Brandt hat Menschen bewegt und viele haben sich damals mit bewegt, sagt Albrecht Müller. Willy Brandt am 28. Oktober 1969 in Bonn. © picture alliance/dpa/Egon Steiner
Ein Standpunkt von Albrecht Müller · 28.10.2019
Audio herunterladen
"Mehr Demokratie wagen" – das forderte vor 50 Jahren Willy Brandt in seiner Regierungserklärung. Albrecht Müller, ehemaliger Mitarbeiter Brandts und heute u.a. Herausgeber der "Nachdenkseiten", fragt, was aus dem Aufbruch geworden ist.
"Wir wollen mehr Demokratie wagen." So der gerade gewählte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung heute vor 50 Jahren. Er war dann viereinhalb Jahre im Amt. In dieser kurzen Zeit hat sich erstaunlich viel in die angekündigte Richtung bewegt. Willy Brandt hat Menschen bewegt und sehr viele Menschen in unserem Land haben sich mit bewegt. Das politische Interesse und die Mitarbeit in politischen Parteien und Gruppen sind messbar angestiegen.
Die Zahl der Mitglieder in der CDU hat sich in der Zeit des Wirkens von Willy Brandt fast verdoppelt. Offenbar eine Art Mitzieheffekt. Die Zahl der SPD-Mitglieder stieg von rund 700.000 auf über eine Million. Und es waren nicht nur quantitative Zuwächse. In allen Parteien wurde in nicht gekanntem Ausmaß programmatische Arbeit geleistet. Das und nicht die Aussicht auf eine Partei- oder Politikkariere machte die Parteien attraktiv. Daraus kann man für heute einiges lernen.

Auch im Ortsverein wollte man "Die Welt verändern!"

Willy Brandt hat damals Männer und vor allem die bis dahin in der Politik wenig beteiligten Frauen aufgefordert, politisch tätig zu werden, er hat darauf gepocht, die 68er und andere junge Leute in die Politik zu integrieren.
Damals sind viele Menschen in die Parteien eingetreten, weil sie die Welt verändern wollten. Es wurde nicht nur in den Spitzengremien, sondern auch in Ortsvereinen und Kreisverbänden überlegt, wie man zum Beispiel Bodenspekulation verhindern könnte, wie eine Steuerreform aussehen müsste, wie man Kinder aus Arbeiterfamilien auf weiterführende Schulen und Universitäten bringen kann und wie die Bildungspolitik aussehen müsste, die das leistet.
Die Welt verändern zu wollen, das war kein Schmähwort, sondern ein Qualitätssiegel. Auch heute bräuchten wir viel mehr Menschen und viel mehr Mandatsträger, die in die Politik gehen, um nach fachlich gut überlegten Vorstellungen zu gestalten – also die Welt zu verändern und zu verbessern.
Aber: Fragen Sie mal Ihre Abgeordneten, welche Vorstellungen sie von einer besseren Welt haben. Sie werden in der Regel auf erstaunte, wenn nicht sogar schockierte Gesichter treffen.
Diese Reaktion hat viel damit zu tun, dass die programmatische Debatte in den Parteien und in der Gesellschaft insgesamt ausgesprochen dünn geworden ist. Das ist im Kern die Ursache vieler Fehlentscheidungen: zum Beispiel Hunderttausende von Sozialwohnungen an ausländische Hedgefonds zu verscherbeln, zum Beispiel die Altersvorsorge mit der Riester-Rente zu privatisieren, zum Beispiel die Rüstungsausgaben zu erhöhen und Kriegseinsätze im Ausland mitzumachen statt abzurüsten.

Junge Menschen in politische Ämter bringen

Zu einer Demokratie gehört, dass die Erfahrung und die Wünsche vieler Menschen in die Gesetzgebungsarbeit der Parlamente und in die Regierungsarbeit einfließen. Das geschieht aber heute schon deshalb nicht, weil sich heute so viel weniger Menschen für die Politik interessieren.
"Mehr Demokratie wagen" heißt deshalb heute zuallererst, Interesse an der Gestaltung unseres Zusammenlebens zu wecken, und vor allem junge Menschen mit gut durchdachten und fachlich qualifizierten Vorstellungen in politische Ämter zu bringen.
Als nach drei Jahren Regierungsarbeit im Jahr 1972 die Wiederwahl Willy Brandts anstand, haben anonym gebliebene Personen mit einer millionenschweren Anzeigenkampagne versucht, die Wahlentscheidung von 1969 zu korrigieren. Dagegen standen dann Hunderttausende von Menschen auf, sie trugen Buttons, sie klebten Aufkleber auf ihre Autos und an ihre Fensterscheiben und sie sprachen mit vielen anderen über die begonnene neue Politik. Es entstand jenseits der meinungsführenden Medien eine eigene demokratische Öffentlichkeit von Menschen, die mehr Demokratie wagten.
Sichtbares Zeichen des großen Engagements war, dass sich 91,1 Prozent an der Wahl beteiligten – die bisher höchste Wahlbeteiligung überhaupt. Warum sollte es nicht wieder einmal möglich sein, dass sich so viele, dass sich eine Mehrheit von uns darum kümmert, wie das Land und wie unser Zusammenleben aussehen sollen. Das natürlichste von der Welt. Mehr Demokratie wagen!

Albrecht Müller, 1938 in Heidelberg geboren, studierte Volkswirtschaftslehre und Soziologie in Mannheim, Berlin, München und Nottingham (England). Seit 1968 war er Ghostwriter für Bundeswirtschaftsminister Prof. Karl Schiller. Er konzipierte den Wahlkampf Willy Brandts und arbeitete dann von 1973 bis 1982 als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. Albrecht Müller veröffentlichte zahlreiche Essays und gibt den Politik-Blog www.NachDenkSeiten.de heraus.

© privat
Mehr zum Thema