50 Jahre Kniefall von Willy Brandt

Mutter aller politischen Gesten

10:43 Minuten
Bundeskanzler Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto in Warschau, das den Helden des Ghetto-Aufstandes vom April 1943 gewidmet ist.
Willy Brandts Kniefall vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto in Warschau 1970. Brandt legte damit den Grundstein für die deutsch-polnische Aussöhnung. © picture-alliance / dpa / Bildarchiv
Stephanie Geise im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.12.2020
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Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal des Warschauer Gettos ist in die Geschichte eingegangen. Viel diskutiert wurde, ob es eine spontane Geste war. Wichtiger sei, ob sie authentisch war, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Stephanie Geise.
Willy Brandts Kniefall vor dem Mahnmal im ehemaligen jüdischen Getto in Warschau ist wie kaum eine andere politische Geste in die deutsche Geschichte eingegangen. Brandt legte damit den Grundstein für die deutsch-polnische Aussöhnung. Zugleich zeigte er, wie wirkungsvoll und bedeutend eine einzelne, politische Geste sein kann.
Seit damals wird darüber spekuliert, ob Brandt spontan auf die Knie fiel und die Geste geplant war. Denn in der Spontanität wird das Authentische vermutet.
Die Kommunikationswissenschaftlerin Stephanie Geise hat eine andere Perspektive. Bei politischen Reden, sagt sie, gehe auch niemand davon aus, dass diese spontan und ohne Vorbereitung gehalten würden. Die Zuhörer erwarteten diese Vorbereitung sogar und sähen das "aus Ausdruck der politischen Kompetenz und Expertise".
Warum Spontanität also von Gesten erwarten? Es sei unverständlich, warum man nicht auch politischen Gesten und Bildern zugestehe, dass dahinter politische Überlegungen ständen. Letztlich gehe es doch um Authentizität und Ehrlichkeit, betont Geise: "Es ist nicht die Frage, ob es geplant ist oder nicht geplant ist. Sondern: Kauft man dem Politiker ab, dass es Ausdruck einer authentischen Gefühlsregung ist?"

Die Geste passte zu seinen Überzeugungen

Bei Brandts Kniefall sieht Geise das als gegeben. Die Geste habe ins Bild seiner Politik und zu seinen Überzeugungen gepasst, sagt sie. Wie folgenreich und bildhaft sein Kniefall war, habe er damals gar nicht abschätzen können.
Für die heutige Zeit attestiert Geise eine extreme Zunahme an politischen Gesten und Bildern, die sich über die digitalen Medien verbreiten. Sie prägten das Bild von der politischen Welt mehr als vor 50 Jahren, sagt sie. Zugleich gebe es aber auch einen "Verlust ihrer Besonderheit und Einzigartigkeit".
"In der heutigen Bilderflut schaffen es nur wenige, sehr bedeutsame Momente, noch Diskurse anzuregen", betont die Kommunikationswissenschaftlerin.

Thomas Kemmerich und der Blumenstrauß

Aber es gibt sie, und sie haben große Wirkung. Als sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten in Thüringen hatte wählen lassen, warf ihm die Landeschefin der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, einen Blumenstrauß vor die Füße. Ganz klar ein Bild, eine Geste, die im politischen Gedächtnis bleibt.
(ahe)
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