45 Jahre Nelkenrevolution in Portugal

Diktatur hinterließ schreckliche Spuren

09:55 Minuten
Soldaten sorgen am 29. April 1974 vor einem Bankgebäude in Lissabon für Ordung. Bei dem friedlichen Militärputsch vom 25. April 1974 wurde das diktatorische Regime Marcelo Caetano von oppositionellen Offizieren gestürzt. Portugals Befreiung von der Diktatur ging als "Nelkenrevolution" in die Geschichtsbücher ein.
Nelkenrevolution am 29. April 1974 in Portugal: Soldaten sorgen vor einem Bankgebäude in Lissabon für Ordung. Oppositionelle Offiziere stürzten das Regime. © picture alliance/dpa/UPI
Von Johannes Wermbter · 18.04.2019
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Am 25. April 1974 wurde die am längsten andauernde Diktatur Westeuropas beendet. Seit den 30er-Jahren regierte in Portugal António Oliveira Salazar. Die Opfer seiner Herrschaft drängen zur Aufarbeitung, die langsam Früchte trägt.
Im Jahr 2007, also 33 Jahre nach dem Ende der Diktatur, fragte der öffentlich-rechtliche Fernsehsender RTP seine Zuschauer: "Wer ist der größte Portugiese aller Zeiten"?
Nicht die Dichter Fernando Pessoa oder Luís de Camões gewannen die Abstimmung. 41 Prozent der Befragten entschieden sich für den Diktator António Oliveira Salazar. Der Aufschrei war groß – ausgerechnet Diktator Salazar, der mit Hilfe seiner politischen Polizei PIDE über Jahrzehnte die Freiheit der Portugiesen unterdrückte, war der Favorit der Zuschauer.
Der portugiesische Politiker António de Oliveira Salazar an seinem Schreibtisch. Von 1932 bis 1968 bekleidete er das Amt des Ministerpräsidenten und baute ein diktatorisches Regierungssystem auf.
Von 1932 bis 1968 bekleidete António de Oliveira Salazar das Amt des Ministerpräsidenten in Portugal und baute ein diktatorisches Regierungssystem auf.© picture alliance/ dpa
Auch wenn es keine repräsentative Umfrage war, der Schock war groß. Kam die Aufarbeitung der Diktatur in Portugal zu spät, war sie fehlgeschlagen?
Auf jeden Fall änderte sich nach dieser Sendung einiges. So eröffnete in Lissabon zum Beispiel 2015 das Museum Aljube – Resistência e Liberdade, "Widerstand und Freiheit" – Portugals zentraler Ort für die Dokumentation und Erinnerungskultur an die Zeit der Diktatur.

Vergangenheitsbewältigung im Museum

Der Name des Museums – Aljube - bedeutet im Deutschen so viel wie Zisterne, Kerker oder Verlies. Das Gebäude liegt oberhalb der Kathedrale von Lissabon und wurde seit Jahrhunderten als Gefängnis genutzt. Zuletzt von 1928 bis 1965 von der politischen Polizei PIDE, die dort u. a. auch den späteren Präsidenten Mario Soares oder den Schriftsteller Miguel Torga einsperrte.
Auf vier Stockwerken präsentiert das Museum Aljube Dokumente des Widerstands gegen die Salazar-Diktatur und den Kolonial-Krieg. Die Besucher erfahren an konkreten Beispielen, wie die Zensur im damaligen Portugal funktionierte, wie die verschiedenen Protestbewegungen Widerstand leisteten und welche grausamen Foltermethoden eingesetzt wurden. Die winzigen, fensterlosen Gefängniszellen, in denen die Insassen auf ihr Verhör warteten, wurden nachgebaut, vor allem aber bemühten sich die Kuratoren, das individuelle Schicksal der vielen politischen Gefangenen ins Blickfeld zu rücken.
Bis vor einigen Jahren konnte Cesária Pencas (l.) nicht lesen und schreiben. Es gibt in Portugal nach wie vor viele Analphabeten. Während des Salazar-Regimes gab dort keine Schulpflicht. Und auch später wurde nicht systematisch nachalphabetisiert.
Bis vor einigen Jahren konnte Cesária Pencas (l.) nicht lesen und schreiben. Es gibt in Portugal nach wie vor viele Analphabeten. Während des Salazar-Regimes gab dort keine Schulpflicht. Und auch später wurde nicht systematisch nachalphabetisiert.© Deutschlandradio / Tilo Wagner
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der politischen Bildungsarbeit. Viele Schulklassen besuchen das Museum Aljube. Eine Oberstufe aus der nordöstlich von Lissabon gelegenen Kleinstadt Alverca ist gerade zu Gast. Die Schüler sind gut vorbereitet, die längste Diktatur Westeuropas und die Nelkenrevolution vom 25. April 1974 sind obligatorischer Unterrichtsstoff für die Oberstufe in Portugal.
Die 17-jährige Schülerin Rita berichtet über das, was sie bisher über diese Phase der portugiesischen Geschichte erfahren hat:
"Wir lernen etwas darüber, was früher geschehen ist. Die verschiedenen Etappen der Diktatur, vor allem auch die sozialen Aspekte, wie die Menschen gelebt haben, dass viele arm waren, weil die Löhne so niedrig waren, dass viele ohne Strom lebten. Wir lernen auch etwas über die ökonomischen Aspekte, dass Salazar anfangs die Finanzkrise in den Griff bekam und deshalb von der Bevölkerung bewundert wurde. Aber dann gab es Repressionen und die politische Polizei war überall. Am 25. April 1974 gab es dann Aufstände von Teilen des Militärs, der Demonstranten und Studenten. Und dann haben wir erfahren, wie das am 25. April ablief, also die Details, Stunde für Stunde, was passiert ist."
Die Schülerin Rita hat Informationen aus erster Hand über diese Zeit vor 45 Jahren:
"Mein Vater hat als Soldat am 25. April teilgenommen. Er war auch schon bei uns an der Schule, um zu erzählen, was an diesem Tag passiert ist, seine eigene Version. Und mein Onkel war im Kolonialkrieg."

Zeitzeugen erzählen in Schulklassen über die Diktatur

Zum Abschluss ihres Besuchs im Museum Aljube steht für die Schülerinnen und Schüler eine Begegnung mit einer Zeitzeugin auf dem Programm. Die etwa 50 Jugendlichen drängen sich in den kleinen Veranstaltungssaal des Museums. Auf der Bühne nimmt eine Frau Platz, Mitte 70, gekleidet in schwarzem Rock und rotem Pullover.
Es ist Helena Neves. Sie leistete Widerstand gegen das Salazar-Regime, schon als 17-jährige Schülerin in den 60er-Jahre in Lissabon, im gleichen Alter also wie die vielen Jugendlichen, die im Vortragssaal vor ihr sitzen. Sie vervielfältigte Flugblätter für die Kommunistische Partei, setzte sich für Meinungs- und künstlerische Freiheit ein, nahm an Demonstrationen der Studenten teil. Und – sie wurde mehr als einmal ins Gefängnis gesteckt. Zuletzt in die berüchtigte Festung von Caxias, im Westen Lissabons gelegen, wo sie zwei Tage nach der Nelkenrevolution befreit wurde.
"Wir waren 340 politische Gefangene, das sind nicht sehr viele, aber wenn man all die in Haft verbrachten Jahre der Gefangenen zusammenzählt, kommt man auf mehr als 2000 Jahre!"

Gedemütigt, gequält und gefoltert

Mit zarter, aber dennoch fester Stimme erzählt sie von der PIDE-Agentin Madalena. Die habe Frauen, mit denen Helena Neves im Gefängnis einsaß, bei Verhören gedemütigt, gequält und gefoltert.
"Ich selbst wurde nicht gefoltert", sagt Helena Neves, "in meinem Fall war sie nicht gewalttätig, sie war böse, sadistisch. Sie hat bei vielen Opfern schreckliche Spuren hinterlassen."
Und wurde Agentin Madalena nach der Nelkenrevolution bestraft?
"Ja, sie wurde verurteilt", erinnert sich Helena Neves, aber nach nicht einmal fünf Monaten wieder aus der Haft entlassen.
Helena Neves lobt die Kontinuität mit der im Museum Aljube die Aufklärungsarbeit mit Jugendlichen geleistet wird. Das sei fundamental. Denn sie macht sich Sorgen über das Vordringen der extremen Rechten in der ganzen Welt, vor allem aber in Europa.
Eine Wahlveranstaltung der rechtsextremen Partei Vox im Oktober 2018 in Madrid.
Im Gegensatz zu Portugal konnte sich in Spanien die rechtsextreme Partei VOX etablieren.© picture alliance/AP Photo/Manu Fernandez
Erstaunlicherweise lässt sich dieses Phänomen in Portugal gerade nicht beobachten. Im Gegensatz zu Italien, Frankreich, Deutschland oder anderen europäischen Staaten findet man keine rechtspopulistische oder rechtsextreme Partei im portugiesischen Parlament. Die nationalistische Partei "Partido Nacional Renovador" (PNR) kam bei der letzten Parlamentswahl in Portugal 2015 auf 0,5 Prozent der abgegebenen Stimmen und errang somit kein Mandat.

Die Mehrheit hat genug von Diktatoren

Sind die Portugiesen also immun gegenüber den Verführungen rechter Parteien? Trotz der ökonomischen Krise 2009 mit hoher Arbeitslosigkeit und viel Abwanderung in den vergangenen Jahren?
Die Soziologin und Buchautorin Filipa Raimundo arbeitet am Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Lissabon und beschäftigt sich mit diesen Fragen. Gewiss habe die Stabilität der Regierungen seit der Nelkenrevolution dazu beigetragen. Seither wechseln sich die sozialistische Partei PS oder die konservative Partei PSD in der Regierungsverantwortung ab. Aber es gebe noch einige andere Faktoren.
"Zum Beispiel das Fehlen von starken nationalistischen Gefühlen, das Fehlen einer starken Bewegung gegen Einwanderung, die einen Diskurs über den Arbeitsmarkt oder die öffentliche Sicherheit in Gang gebracht hätte und wir müssen auch an die Bedeutung der kommunistischen Partei denken, die eine orthodoxe kommunistische Partei ist, die einen Teil dieser patriotischen Gefühle absorbiert."

Zudem müsse man in Betracht ziehen, dass die Schrecken der Diktaturzeit bis 1974 und des Kolonialkrieges in den 60er-Jahren in Afrika noch nicht so lange zurücklägen, so dass die Bewunderung oder Unterstützung für ein autoritäres oder gar faschistisches Regime kaum einen Widerhall in der Bevölkerung finden würde.

Anstehende Wahlen sind ein Test

Ende Mai stehen die Europawahlen an und im Oktober wird das portugiesische Parlament gewählt. Für Professorin Raimundo wird das ein Test, ob die portugiesische Gesellschaft weiterhin resilient gegenüber rechtsextremistischen Parteien bleibt. Es gibt keine Fünf-Prozent-Hürde in Portugal, aber Filipa Raimundo ist sich sicher:
"Es gibt keine Wählerbasis für Parteien dieser Art."
Und die jüngste Umfrage des Fernsehsenders TVI scheint ihr Recht zu geben. Dort wurden die Zuschauer ohne Anspruch auf Repräsentativität gefragt: "Brauchen wir einen neuen Salazar?" Die große Mehrheit von 62 Prozent sagte: Nein.
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