40 Klaviere her!

Von Eleonore Büning |
Musik hat einen Mehrwert. Jawohl, es gibt sie tatsächlich, die soziale und politische „Umwegrentabilität“ der musikalischen Kompetenz, von der alle Kultur-Sonntagsredner seit vielen Jahren so schön daherschwadronieren. Bereits zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters hatten sich die utopischen Volksbildungspädagogen um Pestalozzi diesen Nebeneffekt einer breiten musikalischen Ausbildung aller Mitbürger noch hoffnungsvoll ausgemalt.
Anno 1811 schrieb der Leipziger Bürgerschullehrer Friedrich Wilhelm Lindner über die Notwendigkeit systematischen Gesangsunterrichts an Volksschulen: „Man lehre das Ohr hören, dann gehorchen, und zuletzt wird das Gehorchen, der Gehorsam, welcher Gott und dem Gewissen gebührt, nicht schwer werden.“

Heute sieht der ideale Untertan zwar (gottlob!) etwas anders aus, die Wertigkeiten des demokratischen Gemeinwesens haben sich noch einmal gründlich verschoben. Aber auch, wenn wir einzig den Begriff „Gewissen“ stehen lassen in dieser fast 200 Jahre alten Gleichung, dann steht sie immer noch argumentativ fest auf zwei Beinen: Wer singt, lernt zuhören und nachdenken. Musizieren macht klug und sozialverträglich. Und hatte nicht Otto Schily unlängst fast das gleiche gemeint mit seinem geflügelten Wort: Wer eine Musikschule schließt, der gefährdet die innere Sicherheit?

Zur Zeit Beethovens und Schuberts, als in allen Bürgerfamilien ein Klavier stand, galt das Singen und Musizieren noch als eine elementare Kulturtechnik, wie das Lesen, Schreiben und Rechnen auch. Heute haben wir nicht nur das Selbermusikmachen verlernt, sondern auch das aktiv mitvollziehende Musikhören. Viele, selbst Bildungspolitiker, halten Musik nur für eine Art Wellness-Faktor – etwas zum Weglutschen, ein kuscheliges Gemütsmäntelchen, das uns Wohlbehagen verschafft, ähnlich wie Wärme, Licht oder gutes Essen. Das ist ein Irrtum. Das Gegenteil ist längst erwiesen worden von den Gehirnforschern, Psychologen, Pädagogen, Musik- und Sozialwissenschaftlern. Jüngste Forschungsergebnisse reichen vom messbaren „Mozart“-Effekt, wonach Kühe mehr Milch geben, wenn sie die „Kleine Nachtmusik“ hören, über die intelligenzfördernde Wirkung des mütterlichen Schlaflieds auf die Hirnströme des Kleinkinds bis hin zur wissenschaftlichen Aufklärung des seit dem Mittelalter bekannten Phänomens, dass ein Stotterer nicht mehr stottert, wenn er seine Stimme erheben und singen kann.

Das Gewaltpotential bei Schulkindern, die ein Instrument spielen, ist deutlich kleiner als bei Kindern ohne Instrument, so das Ergebnis der jüngsten Langzeitstudie des Frankfurter Pädagogen Hans Günter Bastian. Und wie die Musik buchstäblich das Gehirn umformt, das fand Eckart Altenmüller an der Medizinischen Hochschule Hannover in computergestützten Reihenuntersuchungen heraus: Er stellte bei Berufsmusikern einen deutlich stärker ausgeprägten Corpus Callosum fest – das ist jener Nervenstrang, der die rechte mit der linken Gehirnhälfte verbindet. Wer selbst musiziert, verbessert also nebenbei auch seine Fähigkeit, abstrakt zu denken. Und nicht zuletzt: nur wer selbst einmal Musik gemacht hat, kann anderen Musikern auch mit Musikverstand zuhören. Die direkt Betroffenen haben diese Botschaft mittlerweile verstanden. Kein Orchester, kein Opernhaus, das sich heute nicht gezielt um den Publikumsnachwuchs kümmert. Doch die Entscheidungsträger in der Bildungspolitik, die Kultusminister der Länder, die Lehrplan-Entwerfer, Schulreformer, Rektoren und Tutoren, die stehen leider immer noch auf der Leitung.

Seit ich vor drei Jahren in Shanghai zufällig Bekanntschaft gemacht habe mit einem der drei Kinderorchester einer ganz gewöhnlichen Grundschule, habe ich einen Traum. An dieser Schule, so erzählte mir damals der Dolmetscher, gebe es siebzig Klaviere – nicht siebzehn: siebzig! Wäre ich nun Frau Schavan, dann würde ich auch den deutschen Grundschulen auf der Stelle eine solche Klavier-Kur verordnen: Jedes Kind kriegt vom ersten bis zum dritten Schuljahr zwei oder drei Klavierstunden wöchentlich. Das steht fest im Lehrplan. Hat jedes Kind, gleich welcher Herkunft und Begabung, in der Schule ein Klavier für sich, braucht es zu Hause keins zum Üben. Vierzig Klaviere pro Schule sollten also etwa ausreichen.

Dann fehlen nur noch, ebenfalls pro Schule, ein Dutzend Musikstudenten, die als Klavierlehrer erste Praxiserfahrung sammeln können, was das zu Recht als praxisfern kritisierte, verkarstete Curriculum der Musikhochschulen heilsam aufmöbeln würde. Das alles wäre machbar, billig, und der Nutzen wäre enorm. Vierzig Klaviere her! Dann wird den Kindern nicht nur das Rechnen, Lesen Schreiben, sondern auch das Sichvertragen leichter fallen. Und dazu kommt: Klavierspielen ist wie Radfahren. Wer einmal damit angefangen hat, verlernt es nie, selbst wenn er wieder aufhört.


Eleonore Büning zählt zu den renommiertesten deutschen Musikkritikern. Geboren 1952 in Frankfurt am Main, aufgewachsen in Bonn, studierte sie in Berlin Musik-, Theater- und Literaturwissenschaften. Nach ihrer Promotion über Beethoven begann sie zunächst für Musikfachzeitschriften, dann für zahlreiche Zeitungen Kritiken zu schreiben, später produzierte sie auch Musiksendungen für den Rundfunk. 1994 ging Eleonore Büning zur Hamburger „ZEIT“, seit 1997 ist sie Musikredakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Berlin.