40 Jahre nach der Revolution

Wie in Nicaragua die Hoffnung verloren ging

05:28 Minuten
Eine Maske ist auf dem Hinterkopf eines Mannes zu sehen.
Ein junger Demonstrant in Nicaraguas Hauptstadt Managua bei Protesten gegen die derzeitige Regierung von Präsident Daniel Ortega © imago images / Agencia EFE / Jorge Torres
Beobachtungen von Max Paul Friedman · 19.07.2019
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Vor 40 Jahren verjagten die Sandinisten Diktator Somoza: Die Hoffnung war groß, erinnert sich Max Paul Friedman, der damals als Student in Nicaragua war. Vom Revolutionär Ortega sei heute nur dessen Machthunger geblieben, kritisiert der Historiker.
Mit welcher Hoffnung wurden die Sandinisten begrüßt! Sie verjagten den Diktator Anastasio Somoza, schlossen seine Folterkammern und schafften die Todesstrafe ab. Und sie versprachen, alles zu ändern. Nicaraguas Aufgabe war es bis dahin, "Zucker, Kakao und Kaffee anzubauen. Wir haben das Dessert am imperialistischen Esstisch serviert" - so drückte es der damalige Agrarreformminister Jaime Wheelock aus.
Jetzt ging es um Hauptgerichte: Die lukrativen "Dessert-"Ernten wurden in Genossenschaften und staatlichen Farmen angebaut. Die Gewinne dienten dazu, Bohnen und Reis zu subventionieren, damit jeder genug zu essen bekam. In jedem Dorf wurden Schulen und Kliniken errichtet.

Contras bekamen Waffen von US-Regierung

Fast unmittelbar allerdings verhängten die USA ein Embargo gegen das Land, ja schlimmer noch, sie lieferten den Konterrevolutionären, den Contras, Waffen. Für Jimmy Carter waren die Sandinisten noch akzeptable Gesprächspartner gewesen, aber Ronald Reagan entzündete den Kalten Krieg erneut und nannte Nicaragua einen "totalitären Kerker", aus dem heraus die Sowjetunion Texas angreifen könnte.
Damals schloss ich mich zusammen mit anderen ausländischen Studenten einer Arbeitsbrigade an, um unserer Solidarität mit den Sandinisten Ausdruck zu verleihen. Einige Kameraden trugen Birkenstock-Sandalen, und im Volksmund wurden wir "Sandalisten" genannt. Meine Gruppe war in Ocotal an der honduranischen Grenze. Die Contras hatten das Dorf angegriffen und die Schule niedergebrannt, also halfen wir eine neue zu bauen.

Sandinist Ortega 1985 in freier Wahl gewählt

Als ich per Anhalter durch Nicaragua fuhr, sah ich Beweise für den Pluralismus und Pragmatismus der sandinistischen Regierung unter Daniel Ortega: Sie hängte Porträts von Marx, Engels und Lenin an die Kathedrale von Managua, brachte aber auch vier katholische Priester ins Regierungskabinett. Ich traf Entwicklungshelfer aus Kuba, aber auch aus Frankreich und Kanada. 1985 wurde Ortega in einer freien Wahl gewählt.
Ich besuchte auch das Hauptquartier der oppositionellen Liberalen Partei, wo ein Porträt von Adam Smith an der Wand hing, und hörte ganz offen geäußerte Beschwerden von Marktverkäufern und Geschäftsleuten. Die Sandinisten erlaubten anfangs nicht nur Kritik, sie gingen oft sogar darauf ein.
Aber die Contras überfielen alles, was mit den Sandinisten zu tun hatte, verbrannten Kliniken, erschossen Lehrer und Ärzte, sprengten Busse in die Luft. Ein ehemaliger Contra-Führer nannte das treffend eine "Strategie zur Terrorisierung von Nichtkombattanten". Trotzdem unterstützten die USA die Contras weiter, Ronald Reagan hielt die Contras sogar für "das moralische Äquivalent unserer Gründerväter".
Bald floss die Hälfte des Staatshaushalts in die Verteidigung und das Embargo führte zu einem Mangel an allem. Ich sah "Supermercados" mit leeren Regalen, nur ein Paar Bananen und lokales Bier. In Estelí sah ich ein Krankenhaus, in dem man Verbände und Gummihandschuhe ausspülte, um sie für den nächsten Patienten zu verwenden. Ich folgte einem Umzug weinender Dorfbewohner hinter dem kleinen Sarg eines Kindes, das von den Contras erschossen worden war.
Bei den Wahlen 1990 war das alles zu viel geworden. Das Volk stimmte gegen Ortega und die Sandinisten, um dem Krieg und der Knappheit ein Ende zu setzen. Ortegas letzte Tat war die sogenannte Piñata, als er Staatseigentum in die Hände seiner Freunde brachte.

Vom jungen Revolutionär Ortega blieb nur Machthunger

Heute ist Ortega wieder an der Macht. Schon damals war er ein schlauer Taktiker, der sich nicht zuletzt durch Allianzen mit Wirtschaftsführern an die Spitze der Sandinisten setzte. Jetzt präsentiert er sich als wiedergeborener Katholik, verbietet die Abtreibung – und bringt seine Frau und Kinder in Machtpositionen.
Mit venezolanischem Öl hat er eine neue Oligarchie seiner Kumpels aufgebaut, zur Frustration seiner entsetzten ehemaligen Weggenossen. Seit gut einem Jahr, da das Ölgeld vertrocknet ist, errichten Demonstranten erneut Barrikaden auf den Straßen – ähnlich wie vor 40 Jahren.
Diesmal ist Ortega mit seinen Schlägern und seiner Bereitschaftspolizei auf der anderen Seite. Vom jungen Revolutionär ist nur noch der schiere Machthunger übrig geblieben. Und in Managua spricht niemand mehr von Hoffnung.

Max Paul Friedman ist Geschichtsprofessor an der American University in Washington. Im Januar erhielt er den Friedrich-Wilhelm-Bessel-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung. Derzeit forscht er als Gast am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Sein bekanntestes Buch "Rethinking Anti-Americanism" erschien bei Cambridge University Press.

Der Historiker Max Paul Friedman
© American University / Jeff Watts
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