350 Jahre amerikanisches Judentum

Von Heinz-Peter Katlewski |
Vor gut 350 Jahren landete eine Gruppe von Juden aus Südamerika im Hafen von New York an. Dieses Ereignis gilt gemeinhin als der Auftakt für die Entstehung eines amerikanischen Judentums, einer spezifischen und vielfältigen amerikanisch-jüdischen Kultur. Deren Geschichte untersucht derzeit eine Tagung in Tutzing.
In den USA wurde das Ereignis ein ganzes Jahr lang gefeiert: das Jahr 1654. Damals trieb die Inquisition im katholischen Brasilien seine jüdischen Einwohner zur Flucht und spülte damit eine kleine Gruppe von 23 Flüchtlingen in den Hafen der zu jener Zeit holländischen Kolonie Neu-Amsterdam – heute bekannter als New York. Den Erzählern bot das einen Fixpunkt für den Beginn der Geschichte der jüdischen Minderheit in Nordamerika und seines eigenständigen Judentums. Cornelia Wilhelm, Privatdozentin für jüdische Geschichte an der Universität München:

"Man hat ja zunächst kaum Strukturen. Bis 1840 gibt es keine ordinierten Rabbiner, was natürlich sehr viel an Autorität nimmt, und es gibt sehr wenige organisierte Synagogengemeinden. Die Synagogengemeinde hat 'ne ganz andere Struktur, gleicht in Funktion und Möglichkeiten sehr viel mehr einer christlichen Kirche. Es gibt sehr viele Freiräume, man muss auch nicht zu einer Kongregation gehören."

Ganz anders als in Europa, wo Juden per Gesetz gezwungen waren, zu einer bestimmten örtlichen jüdischen Gemeinde zu gehören, solange sie nicht zum Christentum übergetreten waren. Das gab Juden in Amerika die Freiheit, ihre Gemeinden so zu organisieren, wie es ihren Bedürfnissen entsprach, ohne den Zwang zur Einheit. Auch viele Vertreter der jüdischen Reform in Deutschland sahen das so. Eine besonders prominente Persönlichkeit darunter ist der Begründer einer systematischen jüdischen Theologie in Deutschland, der Wissenschaft des Judentums, Leopold Zunz.

Dr. Christian Wiese: "Leopold Zunz hat Anfang des 19. Jahrhunderts in einem Brief an amerikanische Juden ausgesprochen "Amerika, du hast es besser" und hat darüber gesprochen, dass natürlich die amerikanische Juden natürlich nicht das gleiche Problem mit der Emanzipationsgeschichte hatten wie in Deutschland, und dass die Möglichkeiten, sich zu entfalten, sowohl ideologisch als auch kulturell als auch religiös, in Amerika viel besser seien, weil diese Hindernisse der ganz zögerlichen oder verhinderten Emanzipation nicht gegeben waren."

Christian Wiese, Judaist an der Universität Erfurt und zusammen mit Cornelia Wilhelm Organisator dieser Konferenz. Auch wenn Juden in Amerika viel früher Bürgerrechte genossen als in Europa und sie ihr Gemeindeleben pragmatisch und ohne landesherrliche Vorgaben aufbauen konnten, theologisch waren sie lange Zeit von Europa abhängig. Von dort kamen ihre ersten Rabbiner und – bevor die Rabbiner kamen – die Kantoren, die Vorbeter in den Gemeinden.

Schon Ende des 19. Jahrhunderts aber hatten sich die verschiedenen jüdischen Strömungen in Amerika eigene Hochschulen geschaffen – zum Beispiel zur Ausbildung der Rabbiner – und waren damit von Europa immer weniger abhängig geworden.

Nach 1945 und dem Holocaust dreht sich das Verhältnis um. Nicht nur die kleine jüdische Gemeinschaft, auch die neu entstehende Judaistik in Deutschland erhielten ihre wesentlichen Impulse aus den USA. Diese Judaisten aber konzentrierten ihre Forschung auf die vergangene Ära des einst so bedeutenden Judentums in Europa und insbesondere in Deutschland. Nun glaubt man, wird es Zeit, sich neu auszurichten:

Dr.Christian Wiese: "Es gibt einige Stellen in Deutschland wo auch moderne jüdische Geschichte, Kultur und modernes jüdisches Denken gelehrt wird, aber selbst dort ist amerikanische jüdische Geschichte eher am Rande und eher sehr verkürzt. Und das ist die Chance, dass die Judaistik in Deutschland auch noch mal ins Gespräch kommt mit Amerikanistik, mit amerikanisch-jüdischen Historikern. Die Tatsache, dass das große dritte Zentrum des Judentums, außer Israel 1948, sich jetzt in Amerika befindet, muss sich eigentlich in der Forschungslandschaft und im Unterricht in der jüdischen Geschichte wiederfinden. Und das, nach meiner Wahrnehmung, ist bisher nur am Rande der Fall. "

Die Tutzinger Tagung anlässlich von 350 Jahren jüdischen Lebens in den USA soll ein Auftakt sein für mehr Interdisziplinarität, vor allem für eine engere Zusammenarbeit der Judaisten mit der Amerikanistik und den amerikanischen Studien. Cornelia Wilhelm von der Universität München:

"Ich glaube, es bereichert den Blick auf dieses Thema, dass sich eben zwischen Religionsgeschichte, Einwanderungsgeschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Judaistik oder jüdischer Geschichte bewegt."