30 Jahre Wende in der DDR

1989 hätte unser 1968 sein können

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Demonstration für freie Wahlen vor dem Palast der Republik in Ost-Berlin am 4.11.1989.
Was wäre aus der Demokratiebewegung in der DDR geworden, wenn die Mauer nicht gefallen wäre? © imago / Sven Simon
Ein Debattenbeitrag von Martin Ahrends · 16.09.2019
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Nur einen kurzen Moment der Geschichte war die DDR mündig: als im Sommer und Herbst 1989 Hunderttausende für Freiheit und Demokratie auf die Straße gingen. Es hätte unser 68 werden können, meint der Schriftsteller Martin Ahrends. Doch dann kam der Mauerfall.
89 war unser – sehr verspätetes – 68. Die Gleichsetzung hinkt, aber sie gibt auch eine Krücke zur Hand. Wie ihr im Westen hatten wir uns im Osten der Anpassung an erstarrte, unkreative Verhältnisse verweigert. Doch - und das unterscheidet uns - in dem Moment, als wir unsere Welt zur unseren machen wollten, wurde sie uns aus den Händen geschlagen. Nicht von euch. Von die Geschichte. Es war einfach zu spät. In punkto Verhinderung von Geschichte hatten die greisen Genossen 1989 ganze Arbeit geleistet. Wir waren unsere eigenen Nachzügler.

Gedankenspiel: eine sozialistische Wiedervereinigung

Stellt euch vor, in Prag wären 68 keine russischen Panzer gerollt, der Reformsozialismus hätte im Ostblock eine Chance bekommen. Stellt euch vor, dies hätte euch die DDR so attraktiv erscheinen lassen, dass es zur sozialistischen Wiedervereinigung gekommen wäre.
In den ersten gesamtdeutschen Wahlen hätten aber nicht die linken Rebellen, sondern wie stets die Staatspartei gesiegt. Das Land, auf das sich eure Ambition bezog, hätte es plötzlich nicht mehr gegeben. Ihr hättet euch unter fremden Verhältnissen gefunden, in einem Land, das eure Ideen, euer Verändernwollen nicht braucht, weil die ja dem kapitalistischen Herrschaftssystem entstammen, das ja nun überwunden ist.
Die Führungspositionen eures westlichen Deutschlands würden ganz selbstverständlich besetzt mit den erfahrenen Genossen aus dem Osten. Aus dem Rausch des großen Aufbruchs wäret ihr erwacht in diesem anderen Deutschland, wo das nicht gefragt ist, was ihr nur deshalb so differenziert und genau formulieren könnt, weil ihr es gelebt und tausendfach durchdacht, miteinander verhandelt und ausgetauscht habt. Erwacht in einem Neuen Deutschland, wo alles, was ihr endlich verändern wollt, angeblich längst verwirklicht ist. Ihr wärt plötzlich überflüssig mit eurer zur Aktion gereiften Erfahrung. Und von der eigentlichen Reifung im "Marsch durch die Institutionen" abgeschnitten. So ähnlich erging es uns nach 1989.

Hinter dem Mauerfall verblasst der Aufbruch

Nicht die BRD, sondern die DDR wurde nach dem Wettstreit der Systeme nicht mehr gebraucht. Was es aus ihr für uns Ostdeutsche zu lernen gab, was da in Jahrzehnten gewachsen, war außerhalb der staatlich-orthodoxen Denkstrukturen, das wurde mit dem Bade ausgekippt. Das Kind, die Frucht, mit dem abgestandenen Badewasser der Stagnation. Das ist der eigentliche Verlust: die nicht fruchtbar gewordene Erfahrung, die in diesem ostdeutschen Aufbruch in den späten Achtzigern steckte.
Der Mauerfall war ein Nebenprodukt dieses Aufbruchs, war von den stammelnden Greisen des Politbüros als Ventil gedacht. Nun ist der Aufbruch hinter dem historischen Großereignis des Mauerfalls kaum mehr erkennbar. Betrogen fühlen wir uns nicht um die sozialen Errungenschaften der DDR, sondern um die Frucht, das Kind, den Sinn, den diese 40 Jahre hätten haben können, wenn der so verspätete Aufbruch den Entfaltungsraum gehabt hätte, den ihr, die 68er, hattet.

Die mündige DDR dauerte viel zu kurz

Die eigentliche Leistung von uns Ostdeutschen wird vor allem darin gesehen, den kompletten Zusammenbruch des eigenen Lebenssystems zu verkraften. In dieser Sicht bleiben wir Opfer.
Die eigentliche Leistung der Ostdeutschen bestünde im 70. Jahr der Bundesrepublik darin, diese andere Erfahrung im vereinigten Deutschland fruchtbar werden zu lassen. Und damit sind nicht Ampel- und Sandmännchen gemeint.
Gemeint ist ein anderer Lebensstil, weder westlich, noch DDR-staatskonform. Gemeint sind andere Prioritäten, die genau zu formulieren uns einfach die Zeit fehlte. Die mundtote DDR hat viel zu lang gedauert und die mündige DDR viel zu kurz, um die allzu lang unterdrückte politische Reifung nachzuholen. Es ist eine Notreifung geblieben, die bis heute spürbar ist.

Martin Ahrends, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er-Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Zeit" und seit 1996 freier Autor und Publizist.

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