30 Jahre Sachsen-Anhalt

Das zusammengepuzzelte Land

09:43 Minuten
Ein Stein mit der Aufschrift "Sachsen-Anhalt"
Das Bundesland Sachsen-Anhalt: nach der Wende ein vollkommen neues politisches Gebilde. © dpa / Jens Wolf
Von Niklas Ottersbach · 30.09.2020
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Das Bundesland Sachsen-Anhalt ist ursprünglich ein künstliches Gebilde: Vor 30 Jahren wurde es zusammengefügt aus den ehemaligen DDR-Bezirken Halle und Magdeburg. Gibt es heute trotzdem eine sachsen-anhaltische Identität?
Sie ist fast auf den Tag so alt wie Sachsen-Anhalt. Valerie Schönian, Journalistin und Autorin aus Magdeburg, geboren Ende September 1990, nur wenige Tage, bevor das Bundesland Sachsen-Anhalt entsteht beziehungsweise wieder gegründet wird. Aber dazu später mehr.
Identität, das ist Valerie Schönians Thema. Aber das hat weniger mit Sachsen-Anhalt, sondern viel mehr zu tun mit dem Ostbewusstsein der Generation Nachwende, die in Ostdeutschland groß geworden ist. Aber fühlt sich Valerie Schönian auch als Sachsen-Anhalterin?
"Ich würde sagen, zuerst: Ich bin Magdeburgerin. Dann würde ich sagen, ich bin Ossi. Das hat gerade mit meiner Beschäftigung mit dem Osten zu tun. Und dadurch, dass Identität immer eine Konstruktion ist, ist das mir gerade präsenter. Aber dann sehe ich mich auch als Sachsen-Anhalterin."

Eine Mischung aus Sächsisch und Berlinerisch

Wenn es in nationalen Debatten um "den" Osten geht, dann spiele jedoch meistens ein anderes Bundesland die Hauptrolle: Sachsen.
"Es wird ja auch Sachsen-Anhaltern gerne gesagt, ah okay, man hört ja gar nicht, dass du aus dem Osten kommst, weil: Du sprichst ja gar nicht sächsisch. Und dann erkläre ich den Leuten, dass Sachsen-Anhaltinisch eine Mischung ist aus Sächsisch und Berlinerisch."

Sachsen-Anhalt, das ist nicht nur sprachlich eine Mischung. Es ist auch ein Mischgebilde. Nicht historisch gewachsen, sondern 1990 am Schreibtisch zusammengepuzzelt. Es ist das Jahr der Länderneugliederung. Zuerst ist von drei neuen Ost-Bundesländern die Rede, dann von vier: Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen. Aber da fehlte noch was: die DDR-Bezirke Magdeburg und Halle. Daraus entstand Bundesland Nummer fünf: Sachsen-Anhalt.
Journalistin Valerie Schönian
Fühlt sich vor allem als Magdeburgerin: die Journalistin Valerie Schönian.© dpa / Guido Kirchner

Bayern hatte einen König, Sachsen auch

Einer, der 1990 in die Politik ging, ist Wolfgang Böhmer. Damals Chefarzt der Gynäkologie in Lutherstadt Wittenberg, dann Landtagsabgeordneter, später Finanz- und Sozialminister und neun Jahre Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Der ehemalige CDU-Politiker erinnert sich:
"Wir hatten keinen König wie die Bayern. Auch die Sachsen hatten einen König, auf den sie heute noch stolz sind. Das alles gab es in Sachsen-Anhalt nicht. Wir waren der Rest, der bei der Länderneugliederung übrig geblieben ist."

Magdeburg oder Halle – welche wird Hauptstadt?

Gleich der erste Streit im neu gebildeten Bundesland Sachsen-Anhalt: Wer soll Landeshauptstadt werden, Magdeburg oder Halle? Um den Streit zu verstehen, muss man zurückgehen in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals schufen die Sowjets aus der ehemals preußischen Provinz Sachsen und dem Freistaat Anhalt das Land Sachsen-Anhalt. Nur fünf Jahre nach der Gründung musste es dem DDR-Zentralismus weichen. Während dieser Zeit war Halle die Landeshauptstadt.
1990 entschied sich allerdings eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Landtagsabgeordneten für Magdeburg. Peter Meschur, 1990 Pressesprecher der Bezirksverwaltung Magdeburg, sagte damals zur Rolle Halles nach dem Krieg:
"Halle war eine Region, die stark als KPD-Hochburg bekannt war, und die Entscheidung, für eine bestimmte Zeit Halle als Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt zu machen, ging über die Köpfe hinweg."

Entlassungen, Kurzarbeit, Wegzug

1990 ging Halle also leer aus. Um die Saalestadt herum: die Chemiekombinate Leuna, Buna, Bitterfeld. Im ehemaligen Bezirk Halle lebte zehn Prozent der Bevölkerung und erwirtschaftete 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der DDR. Nach der Wende hieß es für Zehntausende Arbeiter: Entlassung oder Kurzarbeit. Das habe natürlich auch die Menschen hier geprägt, sagt David Begrich, Soziologe aus Magdeburg.
"In der Sozialstruktur der Bevölkerung in Sachsen-Anhalt hatten wir eine Bevölkerungsstruktur, die sehr stark proletarisch orientiert war, also aus einem proletarischen Segment kam. Und die ganze Frage von Bürgersinn und Zivilgesellschaft, auch des kulturellen Selbstverständnisses sich ganz anders repräsentiert hat, als das in Sachsen, vielleicht auch in Thüringen der Fall war."

Die Ausgangssituation nach 1990 in Sachsen-Anhalt: viele Großbetriebe, die sich nicht in die neue Zeit retten konnten. Wolfgang Böhmer, damals Finanzminister, wollte in Magdeburg unbedingt SKET erhalten. 30.000 Menschen haben hier bis zur Wende Stahlprodukte hergestellt, von der Baggerschaufel bis zur Uhrenröhre. Millionen hätte die Landesregierung in den Neunzigern investiert, damit SKET erhalten bleibe, sagt Wolfgang Böhmer heute.
"Ich kann mich erinnern, damals gab es einen Geschäftsführer, der über die Treuhand nach Magdeburg gekommen war. Der hat mich damals zum Essen eingeladen und mir gesagt: Sie sind Finanzminister, überlegen Sie sich, was Sie hier machen. Sie werden das nicht schaffen. Egal, ob Sie zehn oder 20 oder 100 Millionen ausgeben. Das ist nicht drin. Die Strukturen müssen geändert werden."

Kein "Landeskönig" für Sachsen-Anhalt

Zu der schwierigen wirtschaftlichen Situation kam die politische. Allein zwischen 1990 und 1994 hatte Sachsen-Anhalt vier verschiedene Ministerpräsidenten. Es fehlte der gute König, sagt Soziologe David Begrich, und verweist auf Manfred Stolpe in Brandenburg und Kurt Biedenkopf in Sachsen.
"Sowohl Biedenkopf als auch Stolpe haben eine sehr starke Wir-Erzählung vermitteln können, die auch in der Lage war, gesellschaftliche Fliehkräfte zu einem gewissen Grad zurückzubinden, und die sicher dazu beigetragen hat, den Großteil der Bevölkerung mitzunehmen in die politische Kultur der Bundesrepublik."
Die politische Landschaft in Sachsen-Anhalt: Sie war ein leerer Raum, der erst befüllt werden musste, meint Begrich. Wolfgang Böhmer wurde 2002 Ministerpräsident. Der ehemalige Chefarzt warb auf Plakaten mit dem Slogan: "Wir werden das Kind schon schaukeln." Noch heute werde er darauf angesprochen, sagt Böhmer. Er versteht das als Kompliment.
Anders sah das damals die CDU-Parteichefin Angela Merkel. Ihr sei das viel zu unpolitisch gewesen. Bei einer Präsidiumssitzung platzte ihr deshalb der Kragen, erinnert sich Wolfgang Böhmer.
"Und als Frau Merkel kam und das Plakat das erste Mal sah, da hat sie spontan gesagt: Was soll denn der Unsinn. Ich stand daneben. Ich wusste, da ist von mir die Rede, und war etwas kleinlaut. Aber ich hab dann gesagt, wir versuchen es einmal anders."

Historisch niedrige Wahlbeteiligung

Der Versuch hat geklappt. Der pragmatische Wolfgang Böhmer regierte neun Jahre. Sachsen-Anhalt machte in der Zeit bundesweit Schlagzeilen, weil 2006 nicht mal jeder Zweite wählen ging. Eine historisch niedrige Wahlbeteiligung. Ein Zeichen mangelnder Identifikation mit dem politischen System? Wolfgang Böhmer führt das heute auf die hohe Arbeitslosigkeit damals zurück und damit einhergehend: Frust.

Und noch etwas ist prägend für Sachsen-Anhalt in dieser Zeit: die Abwanderung. Nirgendwo haben so viele Ostdeutsche ihr Bundesland verlassen wie in Sachsen-Anhalt. 800.000 Menschen sind nach der Wende gegangen. Auch Valerie Schönian wollte nach dem Abi erst einmal weg.
"Aber gar nicht, weil ich dachte, ich muss jetzt unbedingt aus Magdeburg oder Sachsen-Anhalt weg, sondern weil ich dachte: Man geht halt nach dem Abitur oder nach dem Schulabschluss. Ich bin erst nach Berlin und dann nach München gegangen und erst da habe ich gemerkt: krass, man kann auch da bleiben, wo man zur Schule gegangen ist. Und das machen da auch ganz viele."
Wolfgang Böhmer (CDU), ehemaliger Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt
Erst Chefarzt, dann Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt: Wolfgang Böhmer.© dpa / Klaus-Dietmar Gabbert

Abwanderungstrend ist gestoppt

Der Abwanderungstrend ist mittlerweile gestoppt. Inzwischen ziehen sogar etwas mehr Leute nach Sachsen-Anhalt, als umgekehrt. Und die Sache mit der Landes-Identität? Zwar steigt laut Studien die Verbundenheit mit dem Land Sachsen-Anhalt, aber nach wie vor größer: die Identifikation mit dem Wohnort. Soziologe David Begrich aus Magdeburg sagt: Sachsen-Anhalt sei eben nicht so einfach zu greifen. Aber ohne Sachsen-Anhalt könne man auch die Deutsche Geschichte nicht begreifen.
"Ohne Magdeburg und den Magdeburger Dom sind große Teile der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation nicht denkbar. Ohne Wittenberg ist die Reformation nicht denkbar, und das könnte man fortsetzen bis zum Bauhaus oder bis zu den Junkers-Werken. Das heißt, was sich hier auf dem Territorium des heutigen Sachsen-Anhalt an wissenschaftlicher, kulturgeschichtlichen Ereignissen, Personen, Orten und so weiter vollzogen hat, ist so essenziell für die deutsche Geschichte, dass es noch einmal eine andere Frage ist, ob das sozusagen in einer glatten Erzählung zusammengefasst werden kann, das kann es für Sachsen-Anhalt, glaub ich, nicht. Sondern, dass es sehr viel stärker davon lebt, dass es einen Kontrast gibt."
Autorin Valerie Schönian aus Magdeburg fragt sich: Braucht es überhaupt eine Landesidentität? "Also, ich habe halt nie eine Identität mit meinem Bundesland verbunden, sondern: Das war halt einfach das Bundesland, in dem ich aufgewachsen bin. Und ich glaube halt, dass sich das schon durchzieht, dass das einfach zusammengepackt wurde. Aber ich würde das nicht nur negativ sehen. Es ist, glaube ich, auch in Ordnung, wenn du nicht total Bundeslandpatriotisch bist."
Es bleibt also dabei: Sachsen-Anhalt, ein Patchwork-Bundesland. Zwar keine glatte Erzählung, aber immerhin schon 30 Jahre gemeinsame Geschichte. Vor allem: ostdeutsche Geschichte.
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