30 Jahre deutsche Einheit

"Ich dachte, das geht schief"

Ein jubelndes Paar hat sich in Berlin, am Tag der Deutschen Einheit in einer DDR-Fahne Platz geschaffen, wo früher das Emblem Hammer und Sichel war – und feiert den historischen Anlass.
Für die einen ein Tag zum Jubeln: der 3. Oktober 1990. Für unseren Landeskorrespondenten Henry Bernhard nicht. © picture alliance / Zentralbild
Von Henry Bernhard · 03.10.2020
Bei den Feierlichkeiten am 3. Oktober 1990 war unser Kollege Henry Bernhard nicht dabei. Er fuhr stattdessen extra nach Prag, um den Tag zu verpassen. Denn er wollte die DDR verändern, nicht abschaffen. Heute blickt er anders auf die deutsche Einheit.
Ich damals nicht. Ich war nicht dabei, als in Deutschland am 3. Oktober 1990 um null Uhr die Sektkorken knallten, als alle jubelten und sich freudestrahlend in den Armen lagen. Ich war mit meiner Freundin von Dresden nach Prag gefahren, nur für eine Nacht, um nicht dabei zu sein, wenn das Deutschland entsteht, das mir damals Angst machte: zu groß, zu mächtig, zu nationsbesoffen. Ich wollte die DDR verändern, dafür waren wir doch auf die Straße gegangen.
Wahrscheinlich war mein Herz im Oktober 1989 in Dresden stehengeblieben, als wir auf der Straße marschierten und skandierten, "Schließt euch an, wir brauchen jeden Mann". Wie viele haben nur hinter der Gardine gestanden?! Die anderen Sprechchöre habe ich auch noch, auf vergilbtem Papier: "Wir bleiben hier, Reformen wollen wir!" oder "Perestroika auch bei uns!" und "Keine Gewalt". Wie wenig wir wollten! Geknüppelt haben die Uniformierten dennoch.

Wichtig war die Freiheit

Aber es war vorbei mit ihrer Macht. Wie gut das tat – ein Regime zum Abdanken zwingen! Die alten Männer – einen nach dem anderen in Rente schicken! Die verunsicherten Polizisten sehen, die plötzlich Demonstranten schützen mussten, statt auf sie einzuprügeln! Woche für Woche waren wir auf der Straße. Die Mauer fiel auch. Aber das war nicht das Wichtigste. Wichtig war die Freiheit. Doch der Ton der Demonstranten in Dresden änderte sich.
Als Helmut Kohl im Dezember 1989 vor der Frauenkirche sprach, der Abendhimmel voller Deutschlandfahnen, beseelte, ja, verzückte Gesichter im Scheinwerferlicht, da hielt ich mich fern. Und fragte mich, wie viele von den Jublern uns wenige Wochen vorher noch mit dem Gummiknüppel gegenübergestanden hatten, oder in ihren Wohnungen hinter der Gardine.

Kohl würde doch alles niederwalzen

Ich dachte wirklich, dass das schiefgehen müsse. Der dicke Kohl würde doch alles niederwalzen, was sich in der reformierten DDR entwickelt hatte. Das Neue Forum, die Bürgerbewegten, die Langhaarigen und Unangepassten, die die Vorarbeit geleistet hatten für den Herbst 1989. Die den Kopf hingehalten hatten, als es noch gefährlich war. Die letzte Volkskammerwahl im März 1990 – meine erste freie Wahl – zeigte es: "Helmut, nimm uns an die Hand, führ‘ uns ins Wirtschaftswunderland!" stand auf einem Plakat in Leipzig. Es schüttelte mich ob der Naivität: Und wie konnte man sich so klein machen?
Und Kohl war nicht der einzige: "Wir sind jetzt die Nummer eins in der Welt und schon lange die Nummer eins in Europa. Jetzt kommen die Spieler aus Ostdeutschland noch dazu. Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird." – Franz Beckenbauers Größenwahn steht hier für viele, und nicht nur für den Fußball. – "Es tut mir leid für den Rest der Welt. Aber wir werden für Jahre nicht zu besiegen sein."
Porträt Henry Bernhard
Henry Bernhard ist für Deutschlandfunk Kultur Landeskorrespondent in Thüringen.© privat
Als ich mich noch über die schnelle Wiedervereinigung aufregte, auf eine neue DDR-Verfassung hoffte oder zumindest auf eine neue gesamtdeutsche Verfassung, studierte ich schon längst in Göttingen, also im Westen, und bekam BAföG, während meine Eltern noch Ostmark verdienten. Ich hatte also meine Wiedervereinigung längst vollzogen. Ich bin geneigt, mir diesen bemerkenswerten Widerspruch angesichts meiner damaligen Jugend zu verzeihen – absurd ist er dennoch.

Mit großen Idealen gestartet, an der Realität gescheitert

Parallel zum Studium arbeitete ich als Journalist, ging zum Radio. Und geriet da auch bald mittenrein in den deutsch-deutschen Streit um die richtige Wirtschaftspolitik, um die Treuhand, nach Bischofferode, zu den hungerstreikenden Kalikumpeln.
Parallel dazu arbeitete ich mich an der DDR ab, interviewte Oppositionelle, Grenztruppenoffiziere, SED-Funktionäre, Karl-Eduard von Schnitzler und Markus Wolf, ehemalige politische Häftlinge, Musiker, Nachbarn des KZ Buchenwald, Spione und Kinder von Spionen, Augenzeugen des Nürnberger Prozesses, Republikflüchtlinge, Künstler und Fluchthelfer. Viele waren mit großen Idealen gestartet – und an der Realität dessen, was die SED-Funktionäre Sozialismus nannten, gescheitert. Unter ihnen auch Juden, die den Holocaust im britischen Exil überlebt hatten, als Kommunisten in die DDR kamen – und bitter enttäuscht wurden.
Unter ihnen der Komponist André Asriel: "Wir haben also erstaunliches Talent gehabt, gesichtslose Leute an die Spitze zu bringen. Honecker war für mich nichts, eine Unperson, ein Popanz!" Der Schauspieler Gerry Wolff: "Honecker hielten wir immer für einen sicher sehr guten Schlagzeuger in einer Schalmeinkapelle. Und das langte eigentlich nicht, um einen Staat zu leiten." Der Journalist Alfred Fleischhacker: "Diese äußeren Analogien zur Hitlerjugend, diese Aufmärsche, diese Fackelzüge, es lag auf der Hand und es wurde darüber geredet. Auch in unserem Freundeskreis! Aber das hat man eben verdrängt." Der Historiker Eberhard Zamory ging nach Hamburg: "Das zeigt den mediokren Charakter für mich von Honecker und – sagen wir es mal ganz brutal – von dem, was Stalin in seinen Säuberungen übriggelassen hatte, was das für ein Format war! Schlimm! Es funktioniert nicht! So ist der Sozialismus immer noch notwendig, aber nicht machbar!"

Wenn die DDR weiter existiert hätte

Dass ich damals dem Antifaschismus der SED, den sie wie eine Monstranz vor sich hertrug, auf den Leim gegangen war, wurde mir so immer klarer. Auch wenn es uns genervt hat, wenn wir mit Pionierhalstuch und später mit dem FDJ-Hemd vor dem Ernst-Thälmann-Denkmal in Weimar aufmarschieren und uns langweilige Reden anhören musste, so glaubte ich als Kind doch, dass er einer von den Guten war. Dass er in Wirklichkeit einer der Totengräber der Weimarer Republik gewesen war, mußte ich erst lernen.
Ich war mit der Bundeswehr im Kosovo, wo sie meiner Meinung nach nicht hingehörte, und sah Menschen zwischen verbrannten Häusern, zerschossenen Moscheen, Tierkadavern und Autowracks am Straßenrand, die dem Konvoi dankbar zuwinkten. Erlebte Offiziere, die reflektieren und in ganzen Sätzen sprechen konnten – etwas, was ich von der NVA, die ich als Menschenschinder-Verein erlebt hatte, nicht kannte.
Nein, zu einem Fan von Helmut Kohl bin ich nicht geworden in den vergangenen 30 Jahren. Aber ich habe inzwischen Respekt davor, wie er eine Chance gepackt und genutzt hat. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die DDR, zwar reformiert und demokratisch, aber doch als eigenständiger Staat, weiter existiert hätte. Wenn noch Millionen mehr das Land gen Westen verlassen hätten. Der Preis wäre am Ende wohl noch höher geworden.
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