30 Jahre Bosnienkrieg

"Es gab keine Aufarbeitung"

08:33 Minuten
Straße mit zerstörten Straßenbahnwaggons und Autos in Sarajevo 1993.
Angesichts der Bilder und Berichte aus der Ukraine werde sie von Erinnerungen an den Bosnienkrieg heimgesucht, sagt Hana Stojić. © imago / derifo
Hana Stojić im Gespräch mit Dieter Kassel · 05.04.2022
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30 Jahre nach Beginn des Bosnienkrieges sieht die in Sarajewo aufgewachsene Therapeutin Hana Stojić ihr Herkunftsland in einem Zustand der Erstarrung. Eine Aufarbeitung habe es nicht gegeben. Der Krieg in der Ukraine wecke schmerzliche Erinnerungen.
Vor 30 Jahren begann der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Am 5. April 1992 waren in Sarajevo zwei junge Frauen erschossen worden, die auf dem Weg zu einer Friedensdemonstration waren. Mehr als 100.000 Menschen wurden bei dem bis 1995 andauernden Krieg getötet. Fast die Hälfte der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas wurde wegen ihrer ethnischen Herkunft vertrieben, Frauen systematisch als Teil der Kriegsführung vergewaltigt.

Bilder reißen Wunden auf

Angesichts der Bilder und Berichte aus der Ukraine über verwüstete Städte und zivile Kriegsopfer - gerade jetzt in diesen Tagen - werde sie von Erinnerungen an den Bosnienkrieg heimgesucht, sagt Hana Stojić, die ihre Kindheit in Sarajewo verbracht hat. Das gehe vermutlich vielen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien so.
Stojić hat sich als Übersetzerin viele Jahre lang für den Austausch zwischen ihrer Heimatregion und dem deutschsprachigen Raum engagiert. Heute lebt sie als Gestalttherapeutin in Berlin. Russlands Aggression gegen die Ukraine habe sie nicht erst seit dem Angriff am 24. Februar an den Krieg in Ex-Jugoslawien denken lassen, sondern bereits 2014 nach der Annexion der Krim.

Ein eingefrorener Konflikt

Schon ihre Arbeit als Literaturvermittlerin habe sie als Chance begriffen, zu einer Aufarbeitung des Bosnienkrieges beizutragen. "Die Literatur, die Kunst überhaupt, thematisiert ja die wundesten Punkte der menschlichen Seele", sagt Stojić. Aber in Bosnien-Herzegowina und seinen Nachbarländern habe es eine gesellschaftliche Aufarbeitung auch mehr als 25 Jahre nach dem Ende des Krieges nicht gegeben. Die Situation erscheine ihr wie "ein eingefrorener Konflikt".
Über das 1995 getroffene Friedensabkommen von Dayton habe ein deutscher Diplomat treffend bemerkt: "Es sollte eine Rettungsweste sein und wurde zu einer Zwangsjacke." Wie viele Fragen nach der Verantwortung für Verbrechen im Bosnienkrieg immer noch ungeklärt seien, zeige nicht zuletzt die Wahl des heutigen Präsidenten der Republik Serbien Aleksandar Vučić im Jahr 2017.

Der Präsident und die Kriegsverbrecher

Vučić sei nicht nur ein Befürworter des Krieges der 1990er-Jahre gewesen, sondern seine Partei unterstütze nach wie vor sechs verurteilte Kriegsverbrecher, sagt Stojić. "Nach all dem, was passiert ist, ist es in einem Land wie Serbien kein Nachteil, sondern ein Vorteil, wenn Sie verurteilte Kriegsverbrecher haben, die Ihre Politik unterstützen."
Ihr Menschenbild sei dennoch – trotz der Abgründe, die sich im historischen Rückblick und auch in manchen ihrer therapeutischen Sitzungen zeigten – keineswegs durch und durch negativ.

Der Mensch ist zu wunderschönen Sachen und auch zu Gräueltaten bereit. Und ich glaube, diese Ambivalenz auszuhalten, hat mich eine wirkliche Liebe zum Menschen überhaupt entwickeln lassen.

Hana Stojić

Weder die Verherrlichung eines Menschen, noch die Entscheidung, ihn zum Satan zu erklären, lasse uns ihm wirklich nahekommen, sagt Stojić, "sondern ihn zu sehen in seiner Einzigartigkeit aber vielleicht und in manchen Fällen auch in seiner Monsterhaftigkeit – das ist das, was den Menschen schon immer ausgemacht hat, und es wird ihn auch nach wie vor ausmachen."
(fka)

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