250 Jahre - Der Theologe Friedrich Schleiermacher

Gott wohnt nicht über den Wolken

Ein schlichtes Kreuz vor blauem Himmel mit leichten Wolken
Der Himmel – die Erde, die Welt – der göttliche Raum: Von dieser Zwei-Welten-Theorie rückt der Theologe Friedrich Schleiermacher ab. © Aaron Burden / Unsplash
Jörg Dierken im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 18.11.2018
Gefühl und Glaube, Kirche und Kultur - Friedrich Schleiermacher vertrat ein lebensnahes Verständnis von Religion. So wurde der vor 250 Jahren geborene Theologe zu einem Vordenker der Moderne.
Kirsten Dietrich: Wie kann eine Kirche heute überzeugend sein – gerade für die, die ihr eher skeptisch gegenüberstehen? Das ist eine sehr moderne Frage, das ist aber auch eine, die schon vor 200 Jahren gestellt wurde. Denn auch im 17. und 18. Jahrhundert war das gar nicht so selbstverständlich, schon gar nicht nach Französischer Revolution und Aufklärung. In diese Zeit wurde ein Theologe geboren, der sich genau darüber Gedanken gemacht hat, oder genauer: "Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern", nämlich der Religion. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Theologe, Philosoph, Kirchenpolitiker, Pädagoge, wurde am 21. November 1768 geboren, also vor genau 250 Jahren. Deswegen erinnert man sich an ihn – aber mit einem Blick nach vorne, nicht nur zurück. Warum Schleiermacher bis heute inspirierend ist, darüber habe ich mit Jörg Dierken gesprochen. Er lehrt Systematische Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, und er ist Vorsitzender der Schleiermacher-Gesellschaft. Ich wollte von Jörg Dierken wissen, warum ihm Schleiermacher so wichtig ist.
Jörg Dierken: Ja, er ist ganz sicher eine der ganz zentralen Gestalten der modernen Theologie, aber auch nicht nur der Theologie, sondern auch der Philosophie. Er hat Linien, Spuren hinterlassen auf nahezu allen Gebieten der späteren Sozialwissenschaften und Kulturwissenschaften. Es gibt eine Hermeneutik – wir hatten jetzt gerade ein Symposium zur Pädagogik, die gerade frisch in der Kritischen Ausgabe ediert ist. Es gibt eine philosophische Ethik, es gibt eine theologische Ethik und noch vieles andere mehr, Ästhetik und so weiter, aber er hat natürlich auch ganz wesentliche Werke auf dem Gebiet der Theologie hervorgebracht. "Kant der Theologie", so wurde er bezeichnet, als jemand, der sozusagen eine ganz zentrale Entwicklung für die Moderne vorgezeichnet hat. Er wurde auch mit etwas Augenzwinkern der "Kirchenvater der Moderne" genannt. Das ist sicherlich ein bisschen einseitig, aber auch von der Bedeutung nicht ganz falsch. Also, Schleiermacher ist eine ganz zentrale Figur für die Theologie in der Moderne.
Dietrich: Nun ist Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher vor 250 Jahren geboren worden, also schon eine ganze Weile her. Was hat er, was hat seine Theologie, was ihn trotzdem so modern und anschlussfähig macht?

Religion ist Teil der Kultur, keine Sonderwelt

Dierken: Ganz zentral ist, dass er abkehrt von einem Verständnis von Religion, wonach Gott auf einem "Jenseits der Wolken", wie sich Fichte mal ausgedrückt hat, sitzt und wir es mit einer Art Zwei-Welten-Theorie zu tun haben: der Himmel – die Erde, die Welt – der göttliche Raum und so weiter. Demgegenüber versteht Schleiermacher im Grunde Religion als eine Einstimmung in das Ganze des Lebens in unendlicher Wechselwirkung und Mannigfaltigkeit und zugleich als Selbstwahrnehmung individueller endlicher Freiheit. Also diese beiden Figuren sind bei ihm ganz zentral. Damit sind dann auch Möglichkeiten der vielfältigen Anschlüsse an die moderne Kultur und das moderne Leben gegeben. Religion wird von ihm verstanden als ein Teil der Kultur, sicherlich als ein solcher, wo auch kritische Distanz zu manch übrigen Entwicklungen dann gewahrt wird und entsprechende Korrekturmöglichkeiten bestehen, aber Religion ist nicht eine abgekapselte Sonderwelt.
Portrait in schwarz-weiß von Schleiermacher. Das Aufnahmedatum 1.1.1900 ist nur geschätzt.
Die Gedanken des Theologen Friedrich Schleiermacher inspirieren bis heute.© Imago / Leemage
Dietrich: Und jeder Mensch ist nach Schleiermacher ja auch fähig zum religiösen Empfinden. Das ist also nichts, wofür man eigentlich Spezialwissen oder Spezialfähigkeiten, Ämter oder Zugehörigkeiten braucht, oder?
Dierken: Das ist seine Auffassung. Religion ist etwas, was als Möglichkeit, was als Anlage in jedem enthalten ist, in jedem verborgen ist. Es kann selbstverständlich niedergehalten oder unterdrückt werden, die Anlage kann aber auch gepflegt werden, kann sich entfalten. In diesem Zusammenhang ist Kommunikation wichtig, in diesem Zusammenhang sind Anregungen wichtig, ist Bildung wichtig, sind Impulse von anderen wichtig. Aber die Religiosität ist nichts, was andere dem Einzelnen überstülpen oder wozu andere den Einzelnen zwingen können in irgendeiner Weise.
Dietrich: Das hat man wahrscheinlich vor 200 Jahren in der ganz selbstverständlich in der Gesellschaft verankerten Kirche nicht so gern gehört.

Distanz zur Amtskirche

Dierken: Nein. Er ist da vielfach angeeckt, obwohl er eigentlich jemand gewesen ist, der durchaus Sinn für das Institutionelle der Kirche hat, der durchaus Sinn auch dafür hat, dass die religiöse Kommunikation institutionalisiert werden muss, dass es dabei auch Ämter, Funktionen – Rollen würden wir da vielleicht etwas moderner soziologisch sagen – geben muss. Aber in einem sehr stark von einem autoritären Theismus geprägten kulturellen Zusammenhang und religiösen Zusammenhang war er mit seinen Denkwelten und Denkweisen doch auf erheblicher Distanz und hat auch erheblichen Widerstand erfahren.
Dietrich: Neben natürlich auch erheblicher Begeisterung und Zuspruch. Woher kam diese Distanz eigentlich? Schleiermacher ist ja als Sohn eines Pfarrers groß geworden, er ist in der Herrnhuter Brüdergemeine schulisch groß geworden, also in einem sehr frommen Umfeld, in einem, das sehr auf die innere Einkehr zielte, wo Religion wirklich in jede Phase des Lebens eingewebt war. Weswegen dann doch diese Distanz in späterem Alter?
Dierken: Worin er sicherlich den Anfängen treu bleibt – ich fang mal so rum an –, ist, dass er die Orientierung an dem Inneren, dem Innerlichen beibehält. Es ist eigene Überzeugung, eigenes Empfinden, eigenes Erleben, was für ihn Religiosität, was Frömmigkeit ausmacht. Es ist unübertragbar, kann angeregt werden, aber man muss es selbst haben. Da ist auch ein elementares Freiheitsanerkenntnis damit verbunden. Aber die Distanz: Schon in seinen frühen Jahren gibt es ergreifende Zeugnisse des Briefwechsels mit seinem Vater, den er ab dem Alter von 14 Jahren nicht mehr gesehen hat, über Fragen der christlichen Lehre. Schleiermacher zweifelt daran, dass Christus Gott und Mensch gewesen ist, wie es das alte Dogma zum Ausdruck bringt. Er zweifelt daran, dass zur Genugtuung und Versöhnung und Vergebung der Sünde Christi stellvertretender Tod und sein stellvertretendes Strafleiden vonnöten gewesen sein soll. Und wer an solch zentralen Punkten zweifelt und den Zweifel auch intellektuell fördert, der begibt sich auf einen Kurs, der durchaus an vielen Punkten in Kontroversen mit der überlieferten Schultheologie und auch Kirchlichkeit kommen kann.
Dietrich: Das heißt, er zweifelt an der Theologie, er zweifelt aber nicht an seinem Glauben, und versucht dann, diesen Zweifel produktiv zu machen, indem er eine ganz neue Sprache findet.

"Sinn und Geschmack für das Unendliche"

Dierken: Genau. Er entwickelt eine neue Sprache, er verändert ganz gewiss auch seine Religiosität, seinen Glauben dahingehend, dass er Religion beschreibt und begreift als "Sinn und Geschmack fürs Unendliche", als ein Phänomen des Sinns, den man auch durchaus mit einem Bezug zum Sinnlichen wahrnehmen kann. Er entdeckt die sogenannten unteren Vermögen, das Gefühl, das Emotive als Ort der Religion und nicht das Kognitive Für-wahr-halten von Lehren und Dogmen, und auch nicht das praktische, das moralische Handeln, wofür dann die Religion sozusagen der Impuls ist. Damit hat sie auch zu tun, da gibt es Wechselverhältnisse, aber das ist nicht der primäre Ort der Religion. Die Religion ist gewissermaßen nicht nur der Blick aufs Universum, in den Himmel, in das All oder Ganze, sondern auch umgekehrt die Wahrnehmung des Unendlichen im Endlichen. Dafür steht seine frühe Schrift "Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern". Er versucht, denen deutlich zu machen – mit deutlichen Anleihen an romantisches Denken und romantisches Vokabular –, dass Religiosität gewissermaßen Anschauung und Gefühl ist, worin sozusagen das Unendliche im Endlichen wahrgenommen wird und das Endliche sich hin auf das Unendliche entgrenzt.
Dietrich: Also dieses Konzept oder diesen Gedanken, übers Gefühl zur Religiosität zu kommen, über die Emotionen den Glauben deutlich zu machen, da wird mir sehr klar, was da die modernen Anknüpfungspunkte sind. Nun hat Schleiermacher das Ganze ja in einer Welt gesagt, in der Religion sich trotzdem einfach rein pragmatisch in der Form von christlicher Kirche formulierte. Das ist heute gar nicht mehr so. Wie christlich ist denn noch das, was Schleiermacher vorschlägt?
Dierken: Na ja, das hängt natürlich immer davon ab, wer die Definitionshoheit über das Christliche hat. Die hatte sicherlich zu seiner Zeit in einem stärkeren Maße die Gruppe von Geistlichen, von Theologen, von Kirchenleuten, als das gegenwärtig der Fall ist. Heute ist sehr viel stärker das eigene, das individuelle Religionsmanagement gefragt, das Basteln im religiösen Hobbykeller, wie das gelegentlich auch von Religionssoziologen genannt wird. Da ist sozusagen jeder dann selbst derjenige, der darüber urteilt und befindet, was für ihn oder für sie Religion ist. Das ist sicherlich, also gesellschaftlich gesehen, in der Zeit von Schleiermacher noch nicht so gewesen. Aber er stößt Türen in die Richtung auf, und er stößt die Türen jetzt nicht nur in die Richtung auf, wie ihm dann auch gelegentlich vorgeworfen wird, dass alles in einer Art subjektivistische Beliebigkeit abgleite, sondern er stößt die Türen dahingehend auf, dass er die Vorstellungen der Gehalte der christlichen Religion – er ist christlicher Theologe – in eine moderne Denk- und Sprachwelt, die uns zum Teil wieder abständig erscheinen mag, übersetzt.

Sind auch Glaubensferne im Grunde religiös?

Dietrich: Bräuchte die Kirche heute mehr Schleiermacher?
Dierken: Ja, ich denke, man könnte schon an neue "Reden über die Religion" denken oder solche schreiben, es gibt auch Ideen in einer solchen Richtung. Ich denke, man muss im Grunde in dem Geist diese Transformations-, diese Übersetzungsarbeit fortsetzen, und man muss auch an bestimmten Punkten sicherlich über Schleiermacher hinausgehen. Also, dass Schleiermacher im Hinblick auf andere Religionen – er fokussiert hier das Judentum und den Islam – im Grunde davon spricht, dass die Entwicklung der Religionsgeschichte auf das Christentum zuläuft, das wird man sicherlich so nicht mehr sagen können, und dass es darin einen Gipfel hat. Man wird im Grunde andere Religionen in ihrer religiösen Stärke in Betracht ziehen können und müssen ohne eine bestimmte, vorausgesetzte Wertungsinstanz. Aber der Umgang mit anderen Religionen darf und kann auch den eigenen Standpunkt, die eigenen Wahrheitsansprüche, die eigenen Geltungsfragen nicht ausblenden. Das wäre so ein Punkt. Ein anderer ist sicherlich, dass Schleiermacher Religiosität als etwas versteht, was jedem Menschen eignet. Das wirft heute die Frage auf: was ist eigentlich mit denen, die sich selber als nicht religiös verstehen. Ich denke, hier müsste man in einem vermittelnderen Sinne heute davon sprechen, dass es so etwas wie Anlagen, dass es so etwas wie Ähnlichkeiten, Familienähnlichkeiten zum Religiösen gibt in durchaus anderen Formen, etwa dem Ästhetischen, dem Künstlerischen, aber auch in Formen von praktizierter Frömmigkeit – ob sie jetzt christlich sich ausweist oder nicht, ist eine andere Frage – im Sinne von Engagement und anderem mehr. Ich denke, hier wird man eben diese Übersetzungsaufgabe fortsetzen müssen.
Dietrich: Der evangelische Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde vor 250 Jahren geboren und ist modern bis heute. Über seine bleibende Bedeutung sprach ich mit dem Theologen Jörg Dierken.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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