24 Stunden Berlin nonstop

Volker Heise im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 04.09.2008
Der Regisseur und Produzent Volker Heise hat sich ein ehrgeiziges Projekt vorgenommen. Er möchte mit 80 Kamerateams 24 Stunden Berlin einfangen. "Ich hoffe, morgen spielt sich vor der Kamera nichts anderes ab, als das ganz normale Leben", sagt Heise. Aus dem Material soll ein 24-stündiges Fernsehprogramm entstehen, das am 5. September 2009 im RBB und auf Arte ausgestrahlt wird.
Volker Heise: Guten Tag.

Matthias Hanselmann: Was genau wird denn ab morgen früh um 6 Uhr in Berlin stattfinden?

Heise: Ich hoffe, das ganz normale Leben.

Hanselmann: Ja., und was werden Sie davon ablichten?

Heise: Also, wir werden versuchen, morgen einen Tag im Leben einer Großstadt, also im Leben von Berlin, zu drehen. Wir selber drehen mit 80 Teams. Das sind also professionelle Teams mit sehr guten Dokumentarfilmregisseuren, angefangen bei Volker Koepp, Andreas Feil, aber auch Studenten, die gerade ihren ersten Film gemacht haben. Und gleichzeitig fordern wir alle Berlinerinnen und Berliner auf, ihr eigenes Leben mit ihrer eigenen Kamera zu drehen und uns zuzuschicken. Und wir wollen dann ein Jahr lang daraus ein Programm bauen und das wird genau ein Jahr später, auch am 5. September, 24 Stunden lang gesendet.

Hanselmann: Wie viele Filmteams darf ich mir denn da ungefähr vorstellen, also von den halbprofessionellen und den professionellen?

Heise: Also, von den professionellen Teams haben wir 80.

Hanselmann: 80 Filmteams?

Heise: 80 Filmteams, genau.

Hanselmann: Wer ist denn sonst noch alles involviert außer den Filmern in diese Aufnahmen, in diesen 24-stündigen Momenteindruck von Berlin?

Heise: Also, Sie meinen vor oder hinter der Kamera?

Hanselmann: Beides.

Heise: Also, vor der Kamera sind es in erster Linie ganz normale Berliner. Das geht von einer Familie am Stadtrand, einem Schornsteinfeger, einem Lehrer, aber auch Schüler bis hin zum Bürgermeister natürlich, aber auch Obdachlose. Also, wir haben versucht, das Bild oder die Bevölkerung von Berlin möglichst repräsentativ, aber auch an einigen Punkten zugespitzt wiederzugeben.

Hanselmann: Sie haben eben gesagt, Privatpersonen können auch einen Beitrag zum Projekt leisten. In welcher Form geschieht das?

Heise: Das geht ganz einfach. Wenn Sie zum Beispiel ein Handy haben, mit dem man Filme drehen kann, dann können Sie Ihr Frühstück drehen oder sich selbst beim Zähneputzen oder den Sonnenaufgang und können das dann bei uns auf einer Homepage, www.24hBerlin.tv, hochladen oder auf eine DVD brennen und uns zuschicken. Das ist der eine Weg. Wir haben auch morgen in ganz Berlin, also wer in Berlin ist morgen, der kann an verschiedenen Punkten in der Stadt, also am Alex, Brandenburger Tor, Hauptbahnhof, kann dahin gehen und da haben wir Kameras aufgestellt und kann von seinem Leben erzählen.

Hanselmann: Es werden ja bei der Aktion, das kann man sich vorstellen, Massen von Material zusammenkommen. Wie werden Sie dann daraus den großen 24-Stunden-Film schneiden? Wie wollen Sie es anstellen, dass das Ganze sozusagen nicht ein 24-Stunden-Kuddelmuddel wird, sondern eine Geschichte erzählt?

Heise: Nicht eine Geschichte, sondern ich denke, dass wir sehr viele Geschichten erzählen. Das ist uns ganz wichtig. Wir wollen nicht diese eine große Berlin-Geschichte erzählen, sondern wir wollen ein 24-stündiges Fernsehprogramm daraus bauen, dass dann in einem Jahr auch wie ein Fernsehprogramm funktioniert und wo wir ganz verschiedene sich oft auch widersprechende Geschichten über und aus dieser Stadt erzählen. Das ist natürlich viel Material, was wir jetzt aufhäufen, wir denken mal so zwischen 800 und 900 Stunden, die allein die professionellen Teams drehen werden, dazu kommt noch das Amateurmaterial.

Also, wie viel das wird, wissen wir nicht. Und wir gehen dann frohen Mutes ab Oktober mit dem gesamten Material mit vier Cuttern in den Schneideraum und hoffen dann, in einem Jahr durchzukommen. Aber wie gesagt, es ist nicht so der große Berlin-Film, weil 24 Stunden lang einen Film gucken, das kann keiner. Deshalb haben wir gesagt, wir machen daraus ein Fernsehprogramm. Das kann man sich morgens angucken, mittags, nachmittags, aber auch abends.

Hanselmann: Ich habe in der Anmoderation gesagt, Sie nutzen alle Möglichkeiten, die die besonderen Zeiten bieten. Was macht denn Ihr Projekt zu einem Multimediaprojekt?

Heise: Dass wir wirklich auf allen Medien versuchen, das zu erzählen. Das eine ist, wir haben natürlich das Fernsehprogramm, aber wir versuchen auch eben einmal über Internet von ganz normalen Menschen ihr Material zu bekommen. Und ich denke, das ist auch wichtig. Jeder hat eine Stimme und jeder möchte ja auch gerne mit dieser Stimme gehört werden und möchte auch seine Spur in der Geschichte hinterlassen. Und ich finde, das war für uns immer von Anfang an ein Ansatz zu sagen, wir wollen keinen Film über Berlin machen, sondern mit Berlin. Und dafür nutzen wir eben das Internet, weil das ist eine Möglichkeit, sich zu beteiligen. Und das ist sozusagen die Grundidee von Anfang an gewesen.

Hanselmann: Nun drehen Sie morgen ab sechs Uhr 24 Stunden lang. Das Ganze wird, wie Sie sagten, ein Jahr später ausgestrahlt. Da ist Berlin dann aber auch schon wieder ein Jahr älter. Wenn sich inzwischen Dinge ereignen, von denen Sie denken, sie müssten rein in den Film, gibt es da noch Möglichkeiten?

Heise: Nein, es geht wirklich um diesen einen Tag. Und es geht ja auch nicht um das Besondere, um riesige Ereignisse, sondern es geht um unseren Alltag, um ganz einfache Fragen. Wie leben wir? Wie erziehen wir unsere Kinder? Was essen wir? Wie stellen wir uns unsere Zukunft vor? Wie wohnen wir? Und so weiter, und so fort. Es geht wirklich um Alltag und ich glaube, der Alltag wird sich in einem Jahr nicht so viel ändern, sondern es wird sich sozusagen in der Spitze was ändern. Das ist ja auch das, was die Medien meistens interessiert, das sind ja die Besonderheiten. Und wir haben gesagt, diesmal machen wir es genau anders.

Uns interessiert der Alltag. Das, was die Leute jeden Tag machen. Und wir wollen, aus dem ganzen Material wollen wir ja auch archivieren und dann Forschern zur Verfügung stellen, die dann vielleicht, wenn sie sich in 50 oder in 100 Jahren fragen, wie wir heute gelebt haben, da reingucken können. Es geht um Alltagsgeschichte und eben nicht um das Besondere oder Außergewöhnliche.

Hanselmann: All die Fragen, die Sie eben gestellt haben oder aufgezählt haben, kann man auch in anderen Städten stellen. Was macht denn aus Ihrer Sicht speziell Berlin so interessant für ein solches Projekt? Oder anders gesagt, fürchten Sie nicht eine weitere Mythenbildung über die Großstadt von der Symphonie einer Weltstadt zur 24-Stunden-Metropolis sozusagen?

Heise: Ach nein, das ist, nein, darum geht es auch nicht. Es geht, also erst mal haben wir gesagt, wir wollen eine Großstadt, eine Metropole und das gibt es halt in Deutschland nur in Berlin, würde ich jetzt mal ganz einfach behaupten. Und Berlin ist natürlich der Ort in Deutschland, in dem Osten und Westen am nächsten zusammen sind oder manchmal auch gegenüber oder übereinander oder hintereinander und das ist natürlich das, was Berlin auszeichnet. Also, Osten, Westen, diese ganze Einheit wird hier ja durchgespielt und vorgespielt, so wie nirgends sonst in Deutschland. Das macht es schon sehr besonders.

Und dann ist es eben eine Stadt der Milieus und der Untermilieus und Submilieus von Untermilieus, wo ganz viele Leute nebeneinanderher leben, die manchmal feindlich gestimmt sind, manchmal freundlich. Und auch das interessiert mich eigentlich an einer Großstadt. Wie funktioniert so was, dass sozusagen links die türkische Familie lebt und rechts der schwule Single in einer Drei-Zimmer-Wohnung? Also, wie funktioniert so was, wie gucken die aufeinander und was machen die dann in ihren jeweiligen Welten? Was unterscheidet sie und was verbindet sie? Also, wir haben keine Lust jetzt sozusagen eine neue Mythenbildung zu haben, sondern wir versuchen einfach zu verstehen, wie leben die Leute heute in Berlin und was macht ihr Leben aus.

Hanselmann: Herr Heise, wie lange arbeiten Sie jetzt schon an dem Projekt?

Heise: Zwei Jahre.

Hanselmann: Zwei Jahre? Und was werden Sie dann morgen früh um 6 Uhr tun?

Heise: Also, wenn wir alles gut geplant haben, dann sitze ich im Liegestuhl und warte, dass es sechs Uhr nächster Morgen wird. Wenn wir nicht alles gut geplant haben, habe ich viel zu tun, aber ich weiß noch nicht, was.

Hanselmann: Herr Heise, kann man in irgendeiner Weise noch teilnehmen an der Produktion oder setzen Sie sich jetzt hin und bestimmen, was geschnitten und montiert wird und ich kann das nur auf Ihrer Website mitverfolgen?

Heise: Also, teils, teils. Teils bestimme ich das natürlich, aber wir haben auch über das ganze Jahre Möglichkeiten über unsere Webseite, dass dann Zuschauer sich beteiligen können, auch am Schnitt. Und dann braucht man einfach zu tippen wieder www.24hBerlin.tv und da kann man dann immer sehen auch in welchem Stadium wir gerade mit dem Schnitt sind und ich frage dann auch immer, sollen wir eher die Szene oder die Szene nehmen. Also, vor allen Dingen bei dem Material, das von den Zuschauern selber kommt. Also, wir wollen das offen halten bis zum Schluss.

Hanselmann: Also ein multimediales Projekt mit demokratischen Anflügen.

Heise: Nicht nur Anflügen, das ist demokratisch.

Hanselmann: Schönen Dank, Volker Heise und viel Erfolg.

Heise: Ja, danke.