24 Monate unter scharfer Beobachtung

10.04.2007
Auch in seinem neuen Jahresbuch nutzt der österreichische Schriftsteller und Verleger Karl-Markus Gauß das literarische Genre des Journals, um in immer neuen Fragmenten eine nahezu alle Seiten des Lebens umfassende Zeitkritik vorzulegen. Mal grollend, mal ehrfürchtig, mitunter pathetisch und manchmal sogar ein wenig zerknirscht führt er uns seine Sicht der Dinge vor.
Zum Beispiel der bemerkenswerte Fall eines Südosteuropa-Experten. In seinem früheren Leben war er einmal Kanzleramtsminister unter Gerhard Schröder und forderte von seiner sozialdemokratischen Partei endlich den Mut, "in Privilegien und Gewohnheiten der Menschen einzugreifen". Dann musste er zurücktreten, aus Gründen des sozialdemokratischen Images. Er hatte sich seine Luxusvilla von einem Konzern finanzieren lassen, der Verbindung zu allen Parteien und jedweder Regierung suchte.

Der Freund und Kanzler ernannte ihn daraufhin zum "Koordinator für den Balkan-Stabilitätspakt", ein mit 70.000 DM Monatssalär lukrativer Posten. Auch diesen Posten aber hat Bodo Hombach aufgegeben - zugunsten eines lukrativeren. Als Vorstandsmitglied berät der sozialdemokratische Kritiker von "Privilegien und Gewohnheiten" den WAZ-Konzern beim Großeinkauf von Presseerzeugnissen in den Ländern Südosteuropas.

Wenn der österreichische Schriftsteller und Verleger Karl-Markus Gauß mit Biss und Witz die seltsamen Karrieren und ideologischen Verdrehungen unserer Zeitgenossen aus Politik, Wirtschaft und Medien schildert, ist er ganz in seinem Element. Doch in "Zu früh, zu spät", seinen Aufzeichnungen, die die Monate von Januar 2003 bis Dezember 2004 behandeln und jetzt im Paul Zsolnay Verlag erschienen sind, geht es um mehr. Ebenso wie in den vorangegangenen Jahresbüchern "Mit mir, ohne mich" und "Von nah, von fern" nutzt Gauß das literarische Genre des Journals, um in immer neuen Fragmenten eine nahezu alle Seiten des Lebens umfassende Zeitkritik vorzulegen. Mal grollend, mal ehrfürchtig, mitunter pathetisch und manchmal sogar ein wenig zerknirscht führt er uns seine Sicht der Dinge vor.

Polemiken gegen den Irak-Kritik, die Seitenhiebe gegen engagierte Friedensbewegte keineswegs ausschließen, verschränken sich mit Erinnerungen an die eigenen Familienangehörigen, die als Deutsche nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus Jugoslawien nach Salzburg oder in die Vereinigten Staaten flüchteten. Die Bewunderung des Kritikers für Schriftsteller wie Jean Améry oder Manès Sperber mischt sich mit der Neugier am Werk des serbischen Erzählers Aleksandar Tišma und der bitteren Enttäuschung am Nachlass eines Elias Canetti.

Gauß, der sich – ob im alltäglichen Detail oder in der kulturhistorischen Betrachtung – stets als scharfer Beobachter und exzellenter Diagnostiker erweist – nimmt uns mit auf die griechische Insel Patmos, nach Amsterdam oder in Berlusconis Italien, in die Slowakei oder nach Litauen. Dabei kritisiert er pointiert die Expansionsgelüste eines globalen Kapitalismus im Neuland der EU und verficht unbeirrbar die Idee eines Vereinigten Europa in kultureller Vielfalt und sozialer Gerechtigkeit.

Wie ein roter Faden durchzieht das Motiv des Vandalismus die außerordentlich heterogenen und immer wieder überraschend zusammengefügten Textstücke - weniger als historische Reminiszenz denn als Schreckgespenst der Gegenwart, das der Autor mal in der Architektur, mal im Treiben von verbrecherischen Banden, vor allem aber im neokolonialen Treiben internationaler Konzerne erblickt. "Zu früh, zu spät" ist eine spannende, bedrückende und zugleich amüsante Auseinandersetzung mit 24 Monaten der jüngsten Zeit.

Rezensiert von Martin Sander


Karl-Markus Gauß: Zu früh, zu spät. Zwei Jahre
Zsolnay Verlag, Wien 2007, 411 Seiten, 24,90 Euro