21 Stahlstäbe für die Loveparade-Opfer

Raimund Stecker im Gespräch mit Joachim Scholl · 22.07.2011
Raimund Stecker, Direktor des Wilhelm-Lehmbruck-Museums in Duisburg, und Mitglied beim "Bürgerkreis Gedenken" sieht in der Arbeit des Künstlers Gerhard Losemann ein gelungenes Mahnmal. Zu sehen sind darin 21 Stahlstäbe.
Joachim Scholl: "Sie kamen, um zu feiern, und fanden den Tod." Das steht auf einer Glastafel neben einer mächtigen Stahlplatte mit den Namen von 21 Opfern – ein Mahnmal, das an die Toten von Duisburg erinnert, die am 24. Juli 2010 starben; erdrückt, erstickt, zu Tode getrampelt, an einem Samstag auf jener unglückseligen Loveparade, die in der Katastrophe endete. Am Sonntag jährt sich das Geschehen, und wir sind jetzt verbunden mit Raimund Stecker, Direktor des Wilhelm-Lehmbruck-Museums in Duisburg. Guten Morgen!

Raimund Stecker: Einen schönen guten Tag nach Berlin!

Scholl: In Ihrem Haus sind über 40 Entwürfe zu einem Mahnmal ausgestellt. Duisburger Künstler und Bürger hatten diese Entwürfe eingereicht. Was ist hier zu sehen? Wie haben die Duisburger dieses furchtbare Thema künstlerisch umgesetzt?

Stecker: Ich glaube, dass man in jedem Entwurf eine tiefe Betroffenheit über das ansehen kann, was hier vor knapp einem Jahr in Duisburg geschehen ist. Entscheidend ist, dass hier in Duisburg etwas passiert ist, dass 21 Menschen ihr Leben verloren haben, über 500 sind verletzt worden, einige davon bis heute stark traumatisiert, einige, wie wir den Medien entnehmen können, auch arbeitsunfähig. Und genau dies haben die Künstler, die sich an dem Wettbewerb beteiligt haben – es war ein Wettbewerb lokaler Ausschreibung –, versucht, in den Griff zu bekommen. Allen Entwürfen ist diese Not nun wirklich anzusehen.

Man ist umfangen von einer Masse, man kommt nicht raus, man will raus – also, die Gefängnismetapher finden Sie, diese Verlorenheitsmetapher finden Sie, und bei dem Denkmal, was letztendlich gewonnen hat, dann auch dieses Aufbäumen, aus dieser Masse einen Weg zu finden, um herauszukommen.

Scholl: Man hat sich für den Entwurf des Künstlers Gerhard Losemann entschieden, eine tonnenschwere Stahlplatte, die nahe an jenem Unglückstunnel, wo es die meisten Opfer gab, errichtet wurde. Wie würden Sie das Kunstwerk umschreiben? Und ist es eine gute Wahl?

Stecker: Ich war jetzt nicht Mitglied der Jury, ich habe allerdings die Arbeiten vorher gesehen. Von den Arbeiten, die ich zuvor mehr oder weniger kursorisch gesehen habe, war das die eindrücklichste. Es sind also 21 Stahlstäbe, die zum Teil auf dem Boden liegen, zum Teil sich hochrecken – man weiß nicht, reckt man sich von unten nach oben oder fällt man von oben nach unten. Und genau das ist ja auch das, was sie auf den Fotos und Filmen der Katastrophe kennen, dieses sich hochrecken wollen, um doch noch entfliehen zu können und dieses von oben runterfallen. Das fängt die Arbeit von Gerhard Losemann, einem Duisburger Künstler – das sind alles Duisburger Künstler, die an dem Wettbewerb teilgenommen haben –, das fängt diese Arbeit sehr, sehr gut ein. Sie ist ein – sie ist, glaube ich, wirklich sehr, sehr signifikant, und das Haus der Geschichte in Bonn wird das Modell dieses letztendlich ausgeführten Entwurfs dann auch übernehmen.

Scholl: Dieses Mahnmal jetzt ist das Ergebnis eines großen bürgerschaftlichen Engagements, das eigentlich direkt nach der Katastrophe schon einsetzte. Auch Sie, Herr Stecker, haben sich beteiligt an dem sogenannten Bürgerkreis Gedenken. Man hatte von außen ja den Eindruck – jenseits von Duisburg –, als ob die Stadt darum bemüht war, möglichst schnell zur Tagesordnung überzugehen; ein schreckliches Unglück, ja nun, aber das Leben geht weiter. Die Bürger Duisburgs sahen das anders. Wie schwer war es überhaupt, das Mahnmal, das Gedenken auf den Weg zu bringen?

Stecker: Es war überhaupt nicht schwer, weil die Bürger Duisburgs waren auf allen Ebenen sehr engagiert, das gesammelte Geld für das Denkmal, was jetzt von Losemann ausgeführt worden ist, ist das Ergebnis der Initiative Trauermarsch, wo also Herr Kesitz von der Organisation Pro Duisburg eine sehr, sehr wichtige Rolle spielt mit dem Sportbund zusammen.

Und dann hat sich dieser Gedenkkreis gebildet, unter Vorsitz von Frau Grillo, einer Duisburger Industriellen und dem Dezernenten für Kultur und Jugend in der Stadt. Und wir treffen uns unregelmäßig. Das Erste, was gemacht worden ist: Wir haben also zum Sechswochentag schon die Gedenktafel angebracht, auch mit Spenden aus der Stadt heraus finanziert. Sie hängt jetzt genau an dieser Treppe, die auf allen Fotos zu sehen ist.

Man muss dazu sagen, die Duisburger sind sehr betroffen darüber, dass in Duisburg so etwas passieren konnte, und ich glaube, keiner wollte zur Tagesordnung übergehen. Es gibt einige, die brauchen sechs Wochen nach katholischem Ritus, um gar nichts zu tun, ein Jahr, um in Ruhe zu trauern – aber zur Tagesordnung kann keiner übergehen in dieser Stadt.

Auf der anderen Seite, das muss man auch jetzt klipp und klar sehen, diese Stadt muss weiterleben, sie war auf einem extrem guten Wege, aus einer Depression des Strukturwandels heraus, und ein solches Unglück – und das war es, ganz ohne Frage – bei allen Fragen zur Unfähigkeit möglicherweise, eine so drohende Katastrophe dann zu managen, zu verhindern; diese Stadt muss nach oben, und ich glaube, das Potenzial der Stadt ist auch gegeben.

Aber daher kommt auch diese Identifikation mit dem, was in der Stadt passiert. Diese Stadt ist unglaublich identifikationsfähig mit sich selber. Das sieht man jetzt bei der Bearbeitung der Katastrophe, das sieht man an vielen anderen Stellen bei der Bearbeitung des Strukturwandels.

Scholl: Zum Jahrestag der Katastrophe von Duisburg. Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Raimund Stecker. Er leitet das Wilhelm-Lehmbruck-Museum in der Stadt. Man hat aber auch gehört, Herr Stecker, dass sich Opfer strikt gewehrt haben sollen gegen eine Beteiligung der Stadt an der Gestaltung des Mahnmals, weil die Stadt die Verantwortung für die Katastrophe von sich weist. Ist dieser Graben zwischen betroffenen Bürgern und der Stadt nach wie vor tief?

Stecker: Es gibt eine harte Diskussion, es gibt parteipolitisches Geplänkel auf allen Ebenen – das alles ist wahr, das alles paralysiert. Auch das ist wahr. Das alles – in meinen Augen – dient in keinster Weise der Bearbeitung dessen. Es gibt so eine gewisse Betroffenheit, die als Betroffenheit jetzt auch rüberkommen soll, als Identifikationsmoment. Das ist sehr, sehr hart formuliert jetzt gerade von mir, aber dem ist so, das muss man einfach feststellen.

Ich glaube, eine Stadt wie Duisburg braucht einfach jetzt ganz, ganz positive Informationen, Ereignisse. Nicht, um das vergessen zu machen – das wird nie einer vergessen, dafür werden wir auch schon als Gedenkkreis sorgen, weil unsere Arbeit geht weiter, auch über den Jahrestag hinaus –, sondern nur einfach ein Weg durch dieses trotzdem raus. Man assoziiert mit München sicherlich auch noch ’72 die Olympiade und sicherlich auch den Absturz von Manchester United, und mit Düsseldorf sicherlich auch den Flughafenbrand, und mit Duisburg sicherlich auf lange, lange Zeit das Unglück der Loveparade, aber das ist keine Geschichte – um mit Theodor Heuss zu sprechen –, um auf Dauer eine kollektive Schuld zu machen. Die kollektive Scham allerdings ist vorhanden.

Scholl: Jetzt zum Jahrestag, Herr Stecker, wird die Katastrophe natürlich bundesweit erneut reflektiert, wird auf die vielen Ungeklärtheiten verwiesen, auf die juristischen Nachspiele, die immer noch offenen Fragen. Wie kann sich denn in einer solchen Atmosphäre überhaupt ein würdiges Gedenken vollziehen?

Stecker: Ich glaube, über die Würdigkeit eines Gedenkens können wirklich nur die entscheiden, die betroffen sind. Alle anderen sind mit ihren Bedürfnissen, mit ihren Gefühlen ... haben sich da zurückzunehmen. Und wenn es der Stadt Duisburg mit dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Bürgerkreis Gedenken und den Kirchen in der Stadt gelingt, denen, die kommen, um wirklich aus persönlicher Betroffenheit heraus, in Duisburg, dem Jahrestag zu gedenken, an dem ihre Kinder verstorben sind, verletzt worden sind, Freunde, Partner – wenn das gelingt, und ich bin davon überzeugt, das wird gelingen, dann ist das Maximum dessen getan, was Dritte tun können. Und wir alle sind Dritte!

Scholl: Sie sagten schon, das Gedenken, die Arbeit werde über den Jahrestag hinaus fortgeführt. Auf dem Gelände der Katastrophe ist ein Möbelzentrum geplant. Nach wiederum Bürgerprotesten hat der Investor jetzt zugestanden, einen Ort der Stille dort einzurichten, als Kompromiss sozusagen. Ist das für Sie akzeptabel?

Stecker: Ich glaube, dass es den Ort der Stille, muss ich Herrn Krieger sagen, den ich nicht persönlich kenne, den hat er schon sechs Wochen nach der Katastrophe vorgeschlagen gehabt.

Scholl: Das ist der Investor, der das Möbelzentrum plant.

Stecker: Genau! Der Bürgerprotest richtet sich dahin, dass man die Treppe als Ort der Erinnerung erhalten möchte. Und als dieser Wunsch von den Opfervertretern öffentlich und klar geäußert worden ist, hat sich der Investor auch sofort dazu bereiterklärt, eine Umplanung vorzunehmen, und die Treppe wird – so sieht es aus – sehr wahrscheinlich erhalten werden.

Es gibt Vorschläge, wo ich auch dran beteiligt bin, direkt dran beteiligt bin, dafür Formen vorzustellen, zu unterbreiten, vergleichbare Denkmäler, Male, zu erinnern, wie man da mit solchen Geschichten umgehen kann. Ich denke sicherlich an das Denkmal der Bibliothek vor der Humboldt-Universität in Berlin von Micha Ullmann, dass das eine Form ist, mit solchen Orten umzugehen.

Und ich bitte einfach nur um Vertrauen, dass in dieser Stadt sehr, sehr verantwortlich damit umgegangen wird. In diesem Bürgerkreis Gedenken gibt es solche, die für die Abwahl sind von Herrn Sauerland, es gibt welche, die dagegen sind, es gibt welche, die das überhaupt nicht einsehen, aus allen Parteien, aus allen Kirchen, aus allen Religionen sind Leute darin vertreten, und es wird sehr konstruktiv gearbeitet im Sinne – hoffen wir – der Angehörigen und im Sinne der Stadt Duisburg.

Scholl: Zum Gedenken an die Opfer von Duisburg. Am kommenden Sonntag jährt sich die Katastrophe der Loveparade. Das war Raimund Stecker vom Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt. Ich danke Ihnen für das Gespräch!


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