20. Todestag von Louis Malle

"Filme über Menschen, die ich nicht verstehe"

Louis Malle und seine Frau Candice Bergen bei den Filmfestspielen in Cannes.
Louis Malle und seine Frau Candice Bergen bei den Filmfestspielen in Cannes. © picture-alliance / dpa/Patrick Billard
Von Katja Nicodemus · 23.11.2015
Zu seinen bekanntesten Werken gehört sein Debüt-Film "Fahrstuhl zum Schafott". Immer wieder hat sich Malle in seinen Filmen mit Außenseitern, mit den uns so vermeintlich Fremden, mit "den anderen" beschäftigt. Heute vor 20 Jahre ist der französische Filmregisseur in Los Angeles gestorben.
Es mag ein zweifelhaftes Kompliment sein, wenn man über den französischen Regisseur Louis Malle sagt, dass sich seine Filme nicht als die Werke eines einzigen Autors erkennen lassen, ja dass sie nicht einmal eine gemeinsame Handschrift haben. Kein Film gleicht dem anderen in Stimmung, Thematik, Form, Atmosphäre. Manchmal scheint es sogar, als habe Louis Malle alles daran gesetzt, nach einem Film einen völlig gegensätzlichen zu drehen. Und doch gibt es in seinem Schaffen eine Linie: die Treue zur eigenen Wandlungsfähigkeit und das Bekenntnis zur Unberechenbarkeit, zu den Zufällen des Lebens.
In seinem 1957 entstandenen Regiedebüt, dem Film noir "Fahrstuhl zum Schafott", sorgt die Ironie des Schicksals für eine überraschende Wendung: Ein Mann begeht einen perfekten Mord, wird aber durch einen dummen Zufall für einen anderen Mord verantwortlich gemacht, den er gar nicht begangen hat. Jeanne Moreau und Maurice Ronet spielen die Hauptrollen in diesem dunklen Thriller, dem die Trompete von Miles Davis eine existenzialistische Grundstimmung verleiht. Hier geht alles schief, auch wenn keiner etwas dafür zu können scheint.
Nicht nur die Drehbuchwendungen, auch Malles Figuren besitzen eine irritierende moralische Offenheit und Unberechenbarkeit. In seinem Film "Lacombe, Lucien" erzählt er 1973 von der erotischen Beziehung eines Kollaborateurs und einer jungen Jüdin. Dem Film wird nicht nur seine negative Zeichnung der Résistance vorgeworfen, sondern auch latenter Antisemitismus. "Lacombe, Lucien" ist Louis Malles Versuch, die Themen Widerstand und Kollaboration ohne nationale Selbstbeweihräucherung, mit allen menschlichen Nuancen und Ambivalenzen zu behandeln. Nicht nur in Bezug auf diesen Film verwahrt sich Malle gegen den Vorwurf der plumpen Provokation:
"Es ist gar nicht so, dass ich den Skandal mag. Aber ich mag es, feste Vorstellungen über den Haufen zu werfen. Oder auch Klischees und Tabus. Das habe ich immer gerne gemacht. Ich habe immer gerne die Scheiße aufgewirbelt, wenn ich das mal so sagen darf. Ich habe diese Filme gemacht, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Ich fühle mich nämlich nicht dazu verpflichtet, alles zu glauben, was man mir erzählt."
Filmhandwerk von der Pike auf erlernt
Anders als seine Nouvelle-Vague-Kollegen Jean-Luc Godard, François Truffaut und Claude Chabrol, die von der Filmkritik zum Kino kommen, versteht sich Malle als Handwerker. Er lernt das Filmen von der Pike auf - als Kameramann und Cutter des Unterwasserfilmers Jacques-Yves Cousteau. Mit diesem eher pragmatischen Zugang zum Medium mag es zusammenhängen, dass Malle auch die moralischen Standpunkte seiner Figuren völlig unvoreingenommen und untheoretisch betrachten kann.
"Ich liebe es, Filme über Menschen zu machen, die ich nicht verstehe", hat er einmal gesagt.
Aus dieser inneren Freiheit heraus erklärt sich auch Louis Malles Vorliebe für sogenannte "unmögliche Paare". In seinem Kino haben diese Konstellationen eine innere Logik jenseits des Skandals. In "Die Liebenden" von 1958 begeht die von Jeanne Moreau gespielte Heldin Ehebruch und lässt ihr Kind zurück. In "Herzflimmern" von 1970 begehen Mutter und Sohn Inzest. Und in "Pretty Baby" von 1977 versteigert Susan Sarandon als Mutter ihre zwölfjährige Film-Tochter Brooke Shields in einem Bordell:
Ausschnitt aus "Pretty Baby": "Ich liebe dich einmal, ich liebe dich sehr, ich werd' von dir lassen nimmermehr."
Das Trauma geschah 1944
Im Leben von Louis Malle, der am 23. November 1995 im Alter von 63 Jahren starb, gab es einen Vorfall, den er selbst als Skandal, als Katastrophe und Trauma erfuhr. Er ereignete sich im Jahre 1944 in Malles Jesuitenschule. Mehr als vier Jahrzehnte später erzählt er in seinem Film "Auf Wiedersehen Kinder" von der Denunziation und Deportation eines jüdischen Mitschülers.
Ausschnitt aus "Auf Wiedersehen Kinder": "Dieser Junge ist nämlich kein Franzose. Dieser Junge ist ein Jude. Und diesen Juden hier bei euch zu verstecken, war von eurem Direktor ein gravierendes Vergehen gegenüber der Besatzungsmacht. Das Internat ist hiermit geschlossen."
In "Auf Wiedersehen Kinder" stellt sich Louis Malle der Banalität, aber auch der Logik und Psychologie des Bösen. Er versucht den Verrat, die Denunziation als den Racheakt eines von allen gehänselten Mitschülers zu erklären. Aber er entschuldigt nichts. Vielleicht liegt in dieser mitgehenden, aber nicht mitfühlenden Haltung seiner Filme dann doch eine Art Leitmotiv. Louis Malle wühlt den Schlamassel des Lebens auf, legt Widersprüche frei, mutet uns, den Zuschauern, seine Außenseiter zu – und hat den Mut, uns mit ihnen allein zu lassen.
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