1978: Argentiniens Triumph und Trauer

WM-Finale unweit des Folterzentrums

Der argentinische Junta-Chef, General Jorge Videla (2.v.r.), freut sich. Er überreicht bei der Siegerehrung am 25.06.1978 im River Plate-Stadion in Buenos Aires den WM-Pokal an Argentiniens Kapitän Daniel Passarella (r), der von seinem Teamgefährten Americo Gallego (Nr. 6) flankiert wird.
Der argentinische Junta-Chef General Jorge Videla (2.v.r.) freut sich über den WM-Sieg Argentiniens. © dpa / picture-alliance
Von Ronny Blaschke · 20.05.2018
Am 25. Juni 1978 gewann Argentinien die Fußball-WM im eigenen Land. Doch während die einen feierten, wurden andere unweit der Fußballstadien gefoltert. 30.000 Menschen fielen der Diktatur zum Opfer. Bis heute suchen Menschen nach ihren Angehörigen.
Der nördliche Stadtrand von Buenos Aires. An einer Ausfallstraße hatte früher die Esma ihren Platz, die Mechanikerschule der Marine. Ein 17 Hektar großes Gelände mit 34 Gebäuden. Wohnhäuser und Werkstätten, Sportplatz und Kapelle. Während der Militärdiktatur war hier ein Folterzentrum untergebracht. Häftlinge wurden betäubt und aus Flugzeugen lebendig über dem Río de la Plata abgeworfen. 30.000 Menschen fielen der Diktatur zum Opfer, die meisten gelten als "Desaparecidos", Verschwundene. Die Esma ist seit 2005 ein Kulturzentrum mit Museen, Gedenkstätten, Menschenrechtsbüros. Mit dabei: die Politikwissenschaftlerin Luciana Bertoia.
"Wir glauben, dass die Aussagen von Zeitzeugen unverzichtbar sind, um die Vergangenheit besser zu verstehen. Insgesamt wurden in der Esma 5000 Menschen gefangen gehalten. Wir haben in unserem Archiv 950 Interviews. So wissen wir, dass damals mehreren hundert Gefangenen ihre Säuglinge und Kleinkinder geraubt wurden. Sie wuchsen bei Militärfamilien auf. Noch heute finden Überlebende ihre Verwandten wieder. Das gibt Hoffnung. Erst vor wenigen Jahren hat eine unserer Aktivistinnen ihren Enkelsohn kennengelernt. Er war während der WM 1978 in der Esma geboren worden."

Friedenstauben vom Diktator

Luciana Bertoia arbeitet für die NGO "Memoria Abierta", die offene Erinnerung. Sie lädt zu einem Rundgang ein. Im Obergeschoss besichtigen drei Schulklassen eine Ausstellung über Sport in der Militärdiktatur. Zwischen weißen, rissigen Wänden sind schwarze, klobige Stelen aufgebaut. Dazwischen kleine Bildschirme, Zeitleisten, Jubelfotos des Fußballs. Auch Karikaturen: Eine zeigt elf muskelbepackte Spieler, die Soldatenhelme und Gasmasken tragen. Eine andere Fußballfunktionäre in dunklen Anzügen, die sich mit beiden Händen ihre Augen verdecken.

Aus den Lautsprechern tönt die WM-Eröffnungsrede von Jorge Rafael Videla, damals General und Vorsitzender der Militärjunta. Salbungsvolle Worte, Applaus, Friedenstauben. Luciana Bertoia und ihre Kollegen haben Forschungen im Fußball angestoßen. Sie sagt, dass der Sport in der Erinnerungskultur keine große Rolle spiele. Das möchte "Memoria Abierta" mit Dokumenten und Erzählungen ändern.
"Als Argentinien am 25. Juni 1978 Weltmeister wurde, glaubte das Regime ganz fest an seine Macht. Das Monumental Stadion, in dem das Finale stattfand, lag wenige hundert Meter von der Esma entfernt. Alle Hinweise auf ein Folterzentrum waren beseitigt worden. Zehntausende Menschen feierten ausgelassen auf den Straßen. Ein Wachmann fuhr mit Häftlingen durch die Straßen, er wollte sie demütigen. Niemand von ihnen traute sich, um Hilfe zu rufen. Vermutlich hätte auch ihnen niemand geglaubt. Diese Geschichten sind schrecklich. Aber wir sollten sie jungen Menschen erzählen, die in demokratischen Verhältnissen aufgewachsen sind. Daher gehen wir auch auf Kinder in Sportvereinen zu. Sie sollen wissen: der Preis für den WM-Triumph war hoch."
Eingang der ehemaligen Mechanikerschule der Marine, Esma. Während der Militärdiktatur war hier ein Folterzentrum untergebracht. Seit 2005 ist das Gebäude ein Kulturzentrum mit Museen, Gedenkstätten, Menschenrechtsbüros. 
Eingang der ehemaligen Mechanikerschule der Marine, Esma. Während der Militärdiktatur war hier ein Folterzentrum untergebracht. Seit 2005 ist das Gebäude ein Kulturzentrum mit Museen, Gedenkstätten, Menschenrechtsbüros. © EFE

Die Fifa schaute über die Militärputschs hinweg

Die WM für 1978 war bereits zwölf Jahre zuvor nach Argentinien vergeben worden, am 6. Juli 1966. Zwei Wochen später wurde der demokratisch gewählte Präsident Arturo Illia von bewaffneten Polizisten zum Rücktritt gezwungen. Fast jede demokratische Regierung Argentiniens musste im 20. Jahrhundert gewaltsam einem Militärregime weichen. Der Weltverband Fifa schaute über diese brüchigen Verhältnisse hinweg, auch nach dem Putsch gegen Präsidentin Isabel Perón am 24. März 1976, zwei Jahre vor der Weltmeisterschaft. Es war eine Zeit der Angst, erinnert Ezequiel Fernández Moores. Der Investigativjournalist war damals Anfang zwanzig und neu im Beruf.
"Diese Zeit hat mich sehr beeinflusst. Meine Familie war damals nicht wirklich politisch. Die Medien in Argentinien berichteten nicht über die Menschenrechtsverletzungen, viele Journalisten standen der Junta nahe. Nach und nach erfuhr ich von ausländischen Journalisten, was wirklich in unserem Land vorging."
Ezequiel Fernández Moores zählt zu den renommiertesten Sportreportern Argentiniens. Er schreibt für die argentinische Tageszeitung La Nación, aber auch für internationale Blätter, die New York Times oder El País.

Geheime Gefängnisse trugen die Namen von Sportklubs

Die Militärs hatten schon vor ihrem Putsch 1976 einen Schattenstaat aufgebaut. Ihre 340 geheimen Gefängnisse und Folterzentren trugen verschleiernde Namen wie "Athletischer Klub", "Olymp" oder "Vesuv". 1976 wurden nachweislich rund 3500 Menschen verschleppt, 1977 waren es etwa 2700. Im Jahr der WM hatte die Junta die meisten Kritiker schon aus dem Weg geräumt, rund 800 Menschen wurden noch inhaftiert. Angeblich wegen "Terrorismus, Korruption und Kriminalität". Der Autor Matías Bauso hat diese Entwicklung in den vergangenen fünf Jahren recherchiert. Sein 1000 Seiten starkes Buch ist gerade in Argentinien erschienen.
"Bis 1978 hat sich Europa nicht mit Argentinien beschäftigt. Als Problemland Südamerikas galt damals Chile unter Pinochet. Die Militärs in Argentinien haben versucht, die Folterzentren geheim zu halten. Doch dann haben immer mehr internationale Medien und Menschenrechtsorganisationen Fragen gestellt. Plötzlich war die Diktatur auf den Titelseiten. Das hat der Junta gar nicht gefallen."

"Plötzlich war die Diktatur auf den Titelseiten"

Vor allem in Frankreich, Schweden und in den Niederlanden wurde gegen die WM protestiert. Bei Auswärtsspielen sah das argentinische Team auch kritische Transparente. empfangen. Amnesty International schickte den deutschen Nationalspielern eine Broschüre: "Fußball ja – Folter nein". Eine andere Gruppe provozierte mit den Worten: "Fußball macht Frei". Der Schriftsteller Walter Jens empfahl "keine Anbiederei beim Regime". Es sollte anders kommen.
"Wenn ich spielen sollte, habe ich mit mir selber Probleme. Und dann kann ich mich um diese Angelegenheiten nicht kümmern."
"Das ist eine Sache der Regierung. Die müssen da handeln und entscheiden. Da haben wir überhaupt nichts mit zu tun."
"Die politischen Zustände in Argentinien interessieren mich überhaupt nicht. Das Militär stört mich weniger."
Die damaligen DFB-Nationalspieler Rüdiger Abramczik, Ronnie Worm und Klaus Fischer wollten sich mit Politik nicht beschäftigen. Verbandspräsident Hermann Neuberger betonte, man möge mit dem Begriff Diktatur "vorsichtig" sein. Aussagen wie diese stärkten das Selbstbewusstsein der Militärregierung. Sie drohten einem kritischen ARD-Reporter mit der Ausweisung. Im Vergleich zu heutigen Sportereignissen in nicht demokratischen Staaten war die Aufregung eher gering. In Argentinien selbst gab es keine Proteste. Mit wenigen Ausnahmen.

Fußball im Stadion — draußen Proteste gegen die Diktatur

Die Plaza de Mayo, der zentrale Platz in Buenos Aires, direkt vor dem Präsidentenpalast. Zwischen Geschäftsleuten unter Zeitdruck und Touristen mit Handykameras bauen Aktivisten eine kleine Bühne auf, davor zwei Lautsprecher und Klapptische mit Broschüren. Langsam füllt sich der Platz mit Menschen aus allen Altersgruppen. Sie tragen Transparente mit Friedensbotschaften. Und sie jubeln, als von der Westseite ein Kleinbus einbiegt, darin sitzen ältere Frauen mit weißen Kopftüchern.
Auch in der Gegenwart treffen sich an jedem Donnerstagnachmittag die Madres de Plaza de Mayo, eine der bekanntesten Menschenrechtsorganisationen Lateinamerikas. Der Applaus ihrer Anhänger und die Sprechchöre für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft übertönen den Lärm der knatternden Busse. Im April 1977 forderten die Mütter öffentlich erstmals Aufklärung für den Verbleib ihrer Kinder. Da Proteste im Stehen verboten waren, drehten sie auf dem Platz einige Runden um die Pyramide. So auch am 1. Juni 1978, dem Eröffnungstag der WM, als Titelverteidiger Deutschland in Buenos Aires gegen Polen spielte. Der Buchautor Matías Bauso.
"Die Stadt war wie leer gefegt, alle saßen vor dem Fernseher. Doch auf der Plaza de Mayo trafen sich zwanzig Frauen mit Foto ihrer verschleppten Söhne. Mit dabei war ein holländisches Kamerateam, das einen kritischen Fernsehbericht drehte. Das sprach sich schnell herum, und so schickten eine Woche später alle großen europäischen Fernsehsender ein Kamerateam auf die Plaza de Mayo. Aber dieses Mal kamen keine Frauen auf den Platz, sie wurden von der Polizei vorher aufgehalten."

Fußballbegeisterte Massen verunsicherten die Machthaber

Die WM 1978 hat viele Mythen hervorgebracht. So sollen europäische Spieler aus Solidarität auf der Plaza de Mayo gewesen sein, doch dafür hat Matías Bauso keine Belege gefunden. Besonders umstritten ist das entscheidende Zwischenrundenspiel Argentiniens gegen Peru. Die Partie wurde überraschend auf den Abend verlegt. So wusste der Gastgeber, dass für den Finaleinzug ein Sieg mit vier Toren Unterschied nötig war. Sonst hätte Brasilen im Endspiel gestanden. Argentinien schlug Peru schließlich 6:0.
"Nach dem Einzug ins Finale feierten schätzungsweise siebzig Prozent der argentinischen Bevölkerung auf den Straßen. Auch im Süden des Landes, wo die Temperaturen im Wintermonat Juni auf fünf oder sechs Grad fallen. So etwas hatte es noch nicht gegeben. Als einige Mitglieder der Junta diese hemmungslosen Menschenmaßen sahen, wuchs ihre Sorge vor dem Machtverlust, aber das war unbegründet."
Die argentinischen Spieler werden von jubelnden Fans am 25.06.1978 im River Plate-Stadion in Buenos Aires auf Schultern getragen.
Die argentinischen Spieler werden von jubelnden Fans am 25.06.1978 im River Plate-Stadion in Buenos Aires auf Schultern getragen.© dpa / picture-alliance
General Jorge Videla hatte bis 1978 nie Interesse an Fußball gezeigt, bei der WM verfolgte er alle Spiele Argentiniens auf der Ehrentribüne. Ob Militär oder Bevölkerung, ob Folterer oder Gefolterte – fast alle jubelten über den 3:1-Finalsieg gegen die Niederlande. Selbst viele der 500.000 argentinische Exilanten feierten. Vielleicht hätte General Videla eine freie Präsidentschaftswahl in diesen Tagen sogar gewonnen. Im September 1979 gewann Argentinien dann die Junioren-WM in Japan. Zur gleichen Zeit traf eine internationale Kommission in Buenos Aires Opfer der Diktatur. Ein bekannter Sportjournalist rief feiernde Fußballfans dazu auf, die "Verschwundenen" als Feinde des Vaterlandes anzuprangern. Der Autor Matías Bauso.

"Die Propaganda hat innenpolitisch nur kurz funktioniert. Die WM war für viele ein schönes Fest, aber nicht mehr. Und auch außenpolitisch haben die Täuschungsversuche der Junta nicht wirklich etwas gebracht. Die Madre de Plaza de Maya waren plötzlich in ganz Europa bekannt."

Viele WM-Stars möchten nicht mehr über die Diktatur sprechen

Die WM 1978 dauerte 24 Tage, doch bis heute scheint sie nicht abgeschlossen zu sein. Kommentare, Fotos und Dokumente rücken einige Spiele in ein neues Licht. Ein Beispiel: das entscheidende Zwischenrundenspiel. Wurden die Peruaner in der Kabine von General Videla beeinflusst? Vielleicht sogar von dessen Ehrengast Henry Kissinger, dem ehemaligen US-Außenminister? Ließ Argentinien als Dank für einen hohen Sieg peruanische Oppositionelle beseitigen? Es gibt Anhaltspunkte, aber keine Beweise. Und auch die argentinischen Weltmeister möchten heute nur ungern über die politischen Umstände sprechen. Der Journalist Ezequiel Fernández Moores hat stundenlange Interviews mit ihnen geführt, auch mit Trainer César Luis Menotti.
"Menotti war damals Anhänger der kommunistischen Partei. Ich habe seine Haltung lange kritisch gesehen und gefragt: Hätte er die Junta deutlicher kritisieren müssen? Aber mit der Zeit bin ich verständnisvoller geworden. Menotti war 1978 noch keine vierzig Jahre alt. Er betonte bei der WM: Wir spielen für die Menschen. Er sagte nie: Wir spielen für das Militär. In den vergangenen Jahren wirkt seine Haltung auf mich etwas negativer. Auch die meisten Spieler möchten nicht mehr über die Diktatur sprechen. Sie sagen, sie mussten ihren Job erfüllen – und sie wussten nichts von den Folterzentren."
Luis Cesar Menotti (li.), der Trainer der Fußballnationalmannschaft Argentiniens, wird am 26.05.1978 im Regierungspalast in Buenos Aires vom Staatspräsidenten Jorge Videla empfangen. 
Fußball-WM '78: Verweigerte der Trainer Luis Cesar Menotti dem Diktator Jorge Videla den Handschlag?© UPI
Vor der WM unterschrieb Menotti Appelle in Zeitungen, die nach dem Schicksal der Verschwundenen fragten. Nach dem Finale hat er angeblich den Handschlag mit Diktator Videla gemieden. Andere Beobachter sagen, das Gedränge auf dem Rasen habe das unmöglich gemacht. Endspielgegner Holland blieb dem feierlichen Bankett fern, angeblich aus Protest. Oder doch, weil der Bus im Verkehrschaos stecken blieb? Deutungen sind heute vielschichtig und manchmal gegensätzlich, sagt Thomas Fischer, Professor für die Geschichte Lateinamerikas an der Katholischen Universität Eichstätt.

Auch anderswo protestierten Fußballer gegen Diktatoren

Wirtschaftskrisen und soziale Spannungen begünstigten von den 1960er Jahren an den Aufstieg etlicher Militärregimes in Lateinamerika, auch in Abgrenzung zur kommunistischen Revolution auf Kuba. Wie sehr begehrten Persönlichkeiten dagegen auf? In Chile forderte der Stürmer Carlos Caszely den Rückzug des Diktators Augusto Pinochet. Seine Mutter war von Schergen des Regimes gefoltert worden. In Brasilien rief die Spielerikone Sócrates die Fans zum Engagement für Demokratie auf. Thomas Fischer ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung, die im Juni eine Fußball-Konferenz in Berlin durchführt.
"Also fast überall hat es Militärdiktaturen gegeben. Vielleicht in Kolumbien und Venezuela nicht. In anderen Ländern war die Situation ähnlich. 1962, als es noch keine Diktatur in Chile gab, hat dort eine WM stattgefunden. Dann die WM 1986 in Mexiko, das war eine Quasi-Diktatur, ein Einparteienregime. Da hätte man auch darüber nachdenken können, was da los ist. Aber es ist nicht so ein kollektiver Ruck durch Teams und sogar die Bevölkerungen gegangen, die dann bei diesen Ereignissen aufbegehrt hätten. Das war auch für die meisten zu gefährlich."

Nach dem Ende Diktatur folgten Jahre der Straflosigkeit

Das Militärregime Argentiniens konnte nach dem verlorenen Krieg um die Falklandinseln 1982 gegen Großbritannien seine Macht nicht mehr halten. Der 1983 frei gewählte Präsident Raúl Alfonsín ging die juristische Aufarbeitung an. Doch schon 1986 verabschiedete das Parlament das "Schlussstrichgesetz", es schloss Anklagen aus. Alfonsíns Nachfolger, Carlos Menem, begnadigte verurteilte Juntamitglieder und paktierte mit dem Militär, aus Sorge vor einem möglichen sechsten Putsch seit 1930. In den 1980er Jahren wurde wenig über die WM 1978 gesprochen. Stattdessen galt die Generation um Diego Maradona als perfekte Ablenkung von der Wirtschaftskrise.
"Die Entscheidungen von damals hatten massive Konsequenzen. In den Jahren der Straflosigkeit konnten Mitglieder der Junta ihre Karrieren fortsetzen: als Polizisten, Lehrer oder Juristen. Wir mussten erst eine Generation warten, um ehrlich in die Vergangenheit blicken zu können."
Eine Frau der "Madres de plaza de mayo" protestiert 1987 gegen das Amnestiegesetz.
Eine Frau der "Madres de plaza de mayo" protestiert 1987 gegen das Amnestiegesetz.© dpa / picture-alliance
Daniel Eduardo Rafecas ist Bundesstrafrichter in Buenos Aires. Sein kleines Büro in der Nähe des Hauptbahnhofes ist mit Büchern voll gestellt. Unter dem linken Präsidenten Néstor Kirchner wurde ab 2003 die Strafverfolgung wieder vorangetrieben. Als junger Richter übernahm Daniel Rafecas 2004 die Koordination von 120 Gerichtsprozessen. Anfangs wurde Rafecas auch bedroht. Einmal öffnete er zu Hause ein Paket mit einer Bombenattrappe. Doch die Arbeit seines zwölfköpfigen Teams zeigte Wirkung.

Heute können NGOs zehntausende Demonstranten mobilisieren

Mittlerweile hat Argentinien die wohl lebendigste Zivilgesellschaft Lateinamerikas. Wenn Politiker einen Strafnachlass für Juntamitglieder fordern, dann können NGOs zehntausende Demonstranten mobilisieren. Und welche Rolle spielt der Fußball in dieser Erinnerungskultur? Die Argentinos Juniors zum Beispiel, der Jugendverein Maradonas, widmete seinen ermordeten Fans eine Wandmalerei im Stadion. In der Kirchner-Ära trieb der ehemalige Spieler Claudio Morresi als Sportminister Projekte voran, sein Bruder wurde nach dem Putsch im Alter von 17 Jahren ermordet. Doch es gab nur wenige Weltmeister von 1978, die sich an Gedenkaktionen beteiligten: Osvaldo Ardiles, Ricardo Villa oder Leopoldo Luque trafen sich Anfang des Jahrtausends mit einigen Müttern der Plaza de Mayo.

Linker Club löste bei der Junta Misstrauen aus

Die Avenida La Plata im Süden von Buenos Aires. In einem schmalen Reihenhaus hat der Club Athlético San Lorenzo de Almagro ein Vereinsheim, mit Kneipe, Ticketschalter und Fitnessstudio. Fast alles in den Farben Rot und Blau. Ein Vater schaut sich mit seinen Kindern alte Fotos und Trophäen an. Zwei ältere Herren diskutieren leidenschaftlich über das letzte Spiel. Auch die Fans Carlos Balboa und Eduardo Otero fühlen sich wohl hier, doch schon in direkter Nachbarschaft sinkt ihre Stimmung.
Über drei Straßenblöcke erstreckt sich einer der größten Supermärkte. Auf dieser Fläche stand bis 1982 das "Gasómetro", das Stadion von San Lorenzo. Schauplatz von Meisterschaften, Länderspielen und Konzerten, mit dem Gitarristen Carlos Santana oder dem Tangokomponisten Osvaldo Pugliese. Der Grafiker Carlos Balboa hat das "Gasómetro" selbst nicht erlebt, er ist 38 Jahre alt, doch ist es für ihn ein Sehnsuchtsort.
"San Lorenzo wurde auf schlimme Art von der Diktatur getroffen. Uns wurde das Stadion geraubt, als Entschädigung erhielt der Verein umgerechnet eine Million Dollar. Angeblich sollten hier Sozialwohnungen und Straßen entstehen. Stattdessen wurde das Grundstück für den neunfachen Preis an eine Supermarktkette verkauft. 14 Jahre mussten wir in fremden Stadien spielen und dafür Miete zahlen. Wir haben unseren Heimvorteil verloren – und unsere Identität."

Selbst in der zweiten Liga teilweise 80.000 Zuschauer

Der 1908 gegründete Verein San Lorenzo galt politisch als links. In seinem Heimatviertel Boedo lebten Arbeiter und Künstler. Das reichte, um bei der Junta Misstrauen auszulösen. Die Generäle verhinderten, dass im "Gasómetro" 1978 WM-Spiele stattfinden. Nach dem Abriss verlor San Lorenzo 15.000 Mitglieder. Doch auch in der zweiten Liga hatte der Verein zeitweise den höchsten Zuschauerschnitt Argentiniens, zu einigen Heimspielen kamen 80.000 Menschen.
"Damals haben sich viele Fans anderer Klubs über uns lustig gemacht. Aber sie konnten noch nicht wissen, warum uns das Stadion enteignet wurde. Während der Diktatur hatten die Menschen Angst, öffentlich ihre Meinung zu sagen. Auch San Lorenzo war kein Verein, der gegen die Junta rebellierte. Aber er brachte Menschen zusammen. Und zumindest gab es hin und wieder Sprechchöre für die Mütter der Plaza de Mayo."
Die Fans von San Lorenzo, dem Lieblingsklub von Papst Franziskus, sammelten Geld für das "Neue Gasómetro". Es wurde 1993 eröffnet, in der Nähe eines Viertels mit viel Kriminalität. Ein Jahrzehnt später, in der Aufbruchszeit unter Präsident Kirchner, schlossen sich immer mehr Anhänger für soziales Engagement zusammen. Sie verteilten Flyer, starteten Internetkampagnen, träumten von einer Rückkehr auf das alte Grundstück in Boedo. 2011 diskutierte das Stadtparlament, wie man San Lorenzo für die Enteignung des Stadions entschädigen könne. Der Anwalt Eduardo Otero ist seit der Kindheit Fan von San Lorenzo.

"Während jeder Debatte demonstrierten Fans vor dem Gebäude. Am Anfang war es eine kleine Gruppe, aber sie wurde immer größer. 2012 kamen 100.000 Menschen auf die Plaza de Mayo. Nicht alle waren Fans von San Lorenzo, aber sie zeigten Solidarität. Sonst erreichen nur Gewerkschaften solche Zahlen."

Ist die WM 2030 eine Chance für Argentinien?

Hinter dem riesigen Supermarkt beherbergt San Lorenzo ein Sportzentrum mit Volleyballhalle, Judomatten und Physiotherapie. Jugendliche in rotblauen Trainingsanzügen gehen ein und aus. Für sie ist die Epoche der Staatsstreiche und Folterzentren weit weg. Argentinien möchte die WM 2030 ausrichten, gemeinsam mit Paraguay und Uruguay.
Es wäre für den Fußball eine Chance, um der Welt zu zeigen, dass 1978 nicht vergessen ist. Aber vergangen.
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