1970 - Deutschlands letzte Pockenepidemie

Panik im Sauerland

08:17 Minuten
Schwarzweiß-Bild von Menschen, die sich durchsichtige Plastikumhänge über die Kleidung gezogen haben.
Dank konsequenter Quarantänemaßnahmen blieb die Zahl der Todesopfer auf vier beschränkt. © picture-alliance / dpa / Roland Scheidemann
Von Kathryn Kortmann · 26.02.2020
Audio herunterladen
1970 brachen im Sauerland die Pocken aus, eingeschleppt von einem Asienreisenden. Die Bevölkerung reagierte panisch. Bestattungsunternehmen weigerten sich, die Toten zu beerdigen. Doch das Krisenmanagement der Behörden war vorbildlich.
Es ist der 16. Januar 1970, als eine Schreckensnachricht das westfälische Sauerland in einem der schneereichsten Winter des 20. Jahrhunderts erreicht:
"Nach Haschisch-Trip in den Fernen Osten an Pocken erkrankt. Mescheder und 30 Kontaktpersonen streng isoliert."
Ein 20-jähriger Elektriker aus dem sauerländischen Meschede hat sich während einer Pakistan-Reise mit dem gefährlichen und hochansteckenden Pockenvirus infiziert. Ende Dezember 1969 war er bereits mit deutlichen Krankheitssymptomen nach Deutschland zurückgekehrt. Weil sich sein Zustand nicht besserte, begab er sich kurz nach seiner Rückkehr mit hohem Fieber in ein Mescheder Krankenhaus.

Alle Kontaktpersonen wurden isoliert

Die Ärzte rätselten zunächst, was das Fieber ausgelöst haben könnte, legten den jungen Mann aber vorsorglich auf die Isolierstation. Erst nach einigen Tagen bestätigten das Hamburger Tropeninstitut und das bayerische Landesimpfamt eine der Verdachtsdiagnosen: Pocken, über viele Jahrhunderte eine der tödlichsten Infektionskrankheiten der Welt. Weil in Deutschland seit 1874 Impfpflicht herrschte, hatte die Krankheit hierzulande ihren Schrecken weitgehend verloren. Bis zu diesem 16. Januar 1970.
"Unter Polizeischutz wurde der Patient gestern Mittag mit einem Spezial-Krankenwagen in die Pockenbehandlungs- und Isolierstation des Herz-Mariä-Krankenhauses in Wickede-Wimbern verlegt. 15 bis 20 Personen, die mit dem Pockenkranken direkt Kontakt hatten – darunter Ärzte und Schwestern des Krankenhauses von Meschede – sind gestern ebenfalls nach Wimbern gebracht worden."
So hieß es damals in der "Westfalenpost" über die Inbetriebnahme der Pocken-Quarantänestation in Wickede-Wimbern, einem kleinen Dorf am Nordrand des Sauerlands.

Erstes Todesopfer: eine 17-jährige Schwesternschülerin

Schon bald reicht die Station nicht mehr aus, um alle Kontaktpersonen aufzunehmen. Jugendherbergen, Tagungsstätten und ein Landschulheim werden zu zusätzlichen Quarantänestationen erklärt. Wenig später die nächste Infektion:
"Eine Lernschwester war eine Etage über der Quarantänestation eingesetzt und erkrankte an Pocken", erinnert sich Hans Wacker, damals stellvertretender Stadtdirektor von Meschede. "Es war ein Rätsel, wie sie die Krankheit bekommen konnte, da sie überhaupt nicht mit irgendwelchen Leuten in Verbindung gekommen war. Dann hat sich herausgestellt, dass durch den Speiseaufzug, der die beiden Etagen verbunden hat, die Pocken durch eine Kaminwirkung in das obere Geschoss gekommen sind und sie sich da infiziert hat."
Krankenhauspersonal in weißen Kittelschürzen bringt infiziertes Kochgeschirr aus dem Krankenhaus nach draußen und reinigt es.
Krankenhauspersonal bringt infiziertes Kochgeschirr aus dem Krankenhaus nach draußen und reinigt es.© picture alliance / dpa / A000ß
Am 27. Januar wird die 17-jährige Schwesternschülerin in Wickede-Wimbern eingeliefert. Zwei Tage später, am 29. Januar, stirbt die junge Frau. Panische Angst macht sich breit.
"Bei einer Trockenübung, die so 1969 stattgefunden hatte, war alles Mögliche besprochen und untersucht worden, aber dass es auch Sterbefälle geben könnte, war damals nicht angesprochen worden", sagt Franz Haarmann, damals Gemeindedirektor in Wickede (Ruhr).

Keiner wollte die Leichen beerdigen

Die Bestattung der Leichen fällt in die Zuständigkeit des Gemeindedirektors. Kein heimisches Beerdigungsinstitut ist bereit, die hochinfektiöse Leiche der Schwesternschülerin in ihren Heimatort Duisburg zu überführen. Die Bestatter sind nicht einmal bereit, einen Leichenwagen zu verleihen.
"In der Nachbarstadt haben wir einen aufgetrieben, allerdings ohne Fahrer", erinnert sich Haarmann. "Der Desinfektor des Kreises hat dann gesagt: 'Ich mach das.' Und dann haben wir also von dort den Leichenwagen geholt und sind rüber gefahren zur Pockenstation. Der Sarg war einige Stunden zum Desinfizieren mit UV-Strahlung bestrahlt worden. Die Leiche war gebettet in Sägespänen, die ebenfalls desinfiziert und mit Formalin getränkt waren, und war eingeschlagen in eine Hülle. Und der Sarg selbst war auch noch außen desinfiziert worden. Jetzt brauchten wir auch noch Sargträger. Das haben wir dann selbst gemacht. Drei haben wir aus dem eigenen Hause zusammengekriegt und als Vierte hat dann schließlich die Ordensschwester mit angepackt."
In Wickede spricht sich schnell herum, wer den Sarg getragen hat. Doch statt Anerkennung für ihren mutigen Einsatz ernten die Helfer Unverständnis. Sie und ihre Familienangehörigen werden in den kommenden Wochen gemieden wie Aussätzige.
"Selbst die Telefonanrufe wurden weniger, obwohl man bisher davon ausgehen konnte, dass ein solcher Virus nicht durch die Telefonleitung konnte", sagt Franz Haarmann.

Kein Benzin für Autos mit "MES"-Kennzeichen

Die Angst vor der "apokalyptischen Krankheit" geht um und entwickelt sich zur Massenpsychose.
"An einem Samstagabend war ein großes Nato-Manöver hier im Sauerland, wie das früher üblich war. Und diese Fahrzeuge, insbesondere der britischen Rheinarmee wurden am Ende des Manövers hier in Meschede auf den Zug verladen", sagt Hans Vogt, ein Bewohner Meschedes. "Vielleicht ein bisschen unglücklich, der Zeitpunkt. Auf jeden Fall rollen an einem Samstagabend von allen Seiten diese am Manöver teilnehmenden Truppen hierhin und das hat viele Menschen aufschrecken lassen. Die haben nun geglaubt: 'Jetzt ist es so weit. Jetzt werden wir eingekesselt und abgeriegelt, dass niemand mehr raus kann.' Und da haben einige Leute dann wirklich panisch reagiert und sind abgehauen."
Hans Wacker, stellvertretender Stadtdirektor von Meschede, erinnert sich: "Es gab Zeitungsberichte, dass Autos an Tankstellen in Köln und Düsseldorf mit dem MES-Schild nicht bedient wurden."
Ein besorgter Bürger aus einer Nachbarstadt schrieb einen Beschwerdebrief an die Stadtverwaltung in Meschede: "Es ist mir unverständlich, wie man Mescheder Bürger besuchsweise aus Meschede herauslässt. […] Ist noch nicht genug angerichtet?"
In dunklen Mänteln steht eine Gruppe von WHO-Vertretern 1970 vor der Zentralen Pockenbehandlungsstelle in Wimbern.
Ein "mustergültiges und optimales" Krisenmanagement bescheinigte die WHO den Behörden im Sauerland.© picture alliance / dpa / Roland Scheidemann
Inzwischen herrscht über das Bundesgebiet hinaus Pockenalarm: Die DDR weist Besucher aus Nordrhein-Westfalen zurück. England und Frankreich verlangen bei Reisenden aus Nordrhein-Westfalen den Impfpass. Spanien, Portugal, Griechenland und Rumänien erklären die Bundesrepublik zum "Pocken-Gebiet" und gestatten die Einreise nur bei Vorlage eines gültigen Impfzeugnisses.

Im März 1970 ist die Gefahr gebannt

In den Quarantänestationen werden die Plätze knapp. Rund 300 Kontaktpersonen werden von Mitte Januar bis Mitte März vorsorglich isoliert. Bricht die Krankheit aus, werden die Infizierten unverzüglich auf die Pockenstation nach Wickede-Wimbern verlegt, wo Ärzte und Krankenschwestern zwischenzeitlich um das Leben von 20 Pocken-Erkrankten kämpfen. Jedes Mal, wenn sich die Diagnose Pocken bestätigt, beginnt für die vorsorglich in Quarantäne genommenen Menschen die 18-tägige Inkubationszeit von vorn. Lokalzeitungen berichten:
"Auf der Station ist es auszuhalten. […] Jeden Morgen kommen zehn Zeitungen. Es gibt Spiele und Bücher. Jeder Wunsch wird erfüllt, vom Haarwaschmittel bis zu Kosmetika. […] Radios, Fernsehen und die jedmöglich beste Betreuung durch die Schwestern […] erleichtern das Dasein. […] Wenn die Ungewissheit nicht wäre."
Mitte Februar stirbt eine 81-jährige Ordensschwester. Sie ist das vierte und letzte Todesopfer dieser Epidemie. Die anderen Kranken erholen sich, auch der Erstinfizierte. Kaum einen Monat nach Beginn der Epidemie im Sauerland steht fest: Neu Erkrankte gibt es nicht mehr. Die Quarantänestationen werden immer leerer und können nach und nach wieder geschlossen werden. Mitte März 1970 ist der Spuk im Sauerland vorbei. Dass bei dieser letzten Pockenepidemie in Deutschland nicht noch mehr Menschen erkrankt und gestorben sind, ist dem beherzten Eingreifen der Behörden zu verdanken, die konsequent alle Kontaktpersonen isoliert hatten. Vertreter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuften das Krisenmanagement als "mustergültig und optimal" ein.
Mehr zum Thema