Jacques Rancières "Figuren des Möglichen"
1968 brachte alte Strukturen und Denkformen ins Wanken, sagt Jacques Rancière. Der französische Philosoph interessiert sich für die historischen Konstellationen, aus denen neue politische Handlungsweisen hervortreten.
Jacques Rancière bei einem Vortrag, Mitte Januar. Der französische Philosoph spricht im Berliner Centre Marc Bloch über die Deutung des Mai '68 in Frankreich:
"Diese Bewegung brachte alle Strukturen und hierarchischen Denkformen ins Wanken, die die Gesellschaft ordneten und die Regierung legitimierten."
Rancière erkennt darin eine Konfrontation zwischen zwei verschiedenen Vorstellungen von Politik. Die Politik der etablierten gesellschaftlichen Ordnung bezeichnet Rancière als "Polizei":
"Dieser Vorstellung zufolge besteht das politische Handeln in der Verwaltung der Gleichgewichte, aus denen eine Gesellschaft zusammengesetzt ist. Ein politischer Konflikt ist demnach bloß Symptom einer Veränderung in der Zusammensetzung der gesellschaftlichen Kräfte. Und man beseitigt ihn durch einen Ausgleich."
Die 68er erhoben ihre Stimmen
Dieser Logik des Ausgleichs und der Vermittlung fühlt sich 1968 auch die Kommunistische Partei Frankreichs verpflichtet, wenn sie sich mit der Regierung gegen die protestierenden Studierenden verbündet. Die politische Praxis der 68er hingegen zeichnet sich für Rancière gerade dadurch aus, dass sie jegliche "Vermittlung" zu umgehen versucht. Stattdessen erheben die 68er selbst ihre Stimmen und erfinden neue Praktiken und Bezeichnungen.
"In diesem Sinne ist es möglich, Politik als Macht kollektiver Erfindung zu denken: Erfindung von Namen, die die gegebenen sozialen Identitäten durchbrechen, Erfindung von Aktionen, die die gesellschaftlichen Vermittlungen überwinden, Transformation von Räumen, ihrer Gebrauchsweisen und ihrer symbolischen Funktion..."
Das Sichtbarwerden sozialer Widersprüche
Diese radikale Gegenüberstellung von bloß "polizeilicher" Verwaltung und den seltenen Momenten "wirklicher" Politik durchzieht Rancières Denken schon seit den 90er-Jahren. Er entwickelt sie in seinem wohl berühmtesten Buch, "Das Unvernehmen". Politik definiert er dort nicht als Problemlösung oder Kompromissfindung, sondern als Sichtbarwerden sozialer Widersprüche. Er schreibt:
"Die politische Tätigkeit lässt sehen, was keinen Ort hatte gesehen zu werden, lässt eine Rede hören, die nur als Lärm gehört wurde. Das kann die Tätigkeit […] der Arbeiter des 19. Jahrhunderts sein, die die Arbeitsbeziehungen, die nur von einer Unzahl individueller privater Verhältnisse abhängen, in ein Gemeinschaftliches einfügen. Oder auch jene Tätigkeit der Demonstranten oder Barrikadenkämpfer, die die städtischen Verkehrswege buchstäblich in ‚öffentlichen Raum‘ umwandeln."
Ein neues politisches Subjekt
Von den Handwerkern der griechischen Polis bis zu den Industriearbeitern des 19. Jahrhunderts versammelt Rancière solche Präzedenzfälle, in denen sich aus einem "Teil der Anteillosen" ein neues politisches Subjekt formiert, sich in die öffentliche Wahrnehmung drängt und seine Gleichheit fordert:
"Es gibt keine Politik, weil die Menschen, durch das Privileg der Sprache, über ihre Interessen übereinkommen. Es gibt Politik, weil diejenigen, die kein Recht dazu haben, als sprechende Wesen gezählt zu werden, sich dazuzählen."
Das große Ganze der Gesellschaft
Die eigentliche "Politik" besteht also für Rancière zuallererst darin, immer wieder neu eine gemeinsame und geteilte Öffentlichkeit zu etablieren, innerhalb derer sich die Sprechenden als "gleichrangig" anerkennen. Das heißt auch, die gegebene gesellschaftliche Aufteilung und die festgeschriebenen Rollen zu unterlaufen.
Genau das erkennt Rancière im Mai '68: Die Studierenden hätten nicht bloß für sich selbst ihre Stimme erhoben, sondern sich mit den Arbeitern solidarisiert und ihr eigenes Lebensumfeld – die Uni – mit dem großen Ganzen der Gesellschaft verknüpft.
"Im Mittelpunkt der 68er Bewegung stand […] das Verhältnis zwischen der Institution Universität und der kapitalistischen Gesellschaft. Wenn es ein zentrales Thema in all diesen Bewegungen gegeben hat, dann war es dieses: Wir wollen nicht zu Helfershelfern der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeiterklasse werden… Ein Traktat des Mai 68 fordert: Die Abschaffung von Prüfungen – und die des Kapitalismus."
Streit um Teilhabe und Sichtbarkeit
Und wie steht es heute um das Politische? In seinem Buch von 1995 diagnostiziert Rancière den westlichen Gesellschaften eine "Konsensdemokratie" – bestimmt durch Polizei statt Politik: durch ein möglichst reibungsloses Management von Problemen statt einem Streit um Teilhabe und Sichtbarkeit.
"Die Herrschaft der Meinungsbefragung und der ständigen Ausstellung des Wirklichen ist heute die gewöhnliche Form der Polizei in den westlichen Gesellschaften. Die Polizei kann sanft und liebenswürdig sein. Sie bleibt deswegen nicht weniger das Gegenteil der Politik…"
Neue Rechte greift Aktionsformen auf
Heute steht dieses Konsens-Regime massiv unter Beschuss – unter anderem von rechts. Und nicht ganz zufällig knüpfen die Neuen Rechten in ihren Aktionsformen explizit an 1968 an. Ob sie damit ‚Politik’ im Sinne Rancières betreiben, ist allerdings fraglich. Rancière selbst jedenfalls verortet das Erbe von '68 eher in der französischen Streiktradition, dem arabischen Frühling oder den weltweiten Occupy-Bewegungen. In diesem Sinne ist '68 für ihn keineswegs gescheitert:
"Die Momente des Politischen lösen sich also nicht einfach auf, wie flüchtige Blasen, und lassen die Ordnung der Dinge intakt. Nein: Ihr Umgang mit Raum und Zeit, ihre Aktionsformen und ihre veränderten Identitäten – all das schafft neue Arten des Wahrnehmens, des Fühlens, des Sprechens und Handelns, die aktive Kräfte der Veränderung sind. Sie erschaffen Figuren des Möglichen."