Der "Struwwelpeter" - eine Bilderbuchkarriere

"Sieh' einmal, hier steht er"

29:53 Minuten
Coverillustration des Buches "Der Struwwelpeter" von Heinrich Hoffmann
Viel Dynamik in einer biederen Zeit: "Der Struwwelpeter" kann als Vorläufer der heutigen Comics betrachtet werden. © Picture Alliance / dpa / imageBROKER | bilwissedition
Von Renate Maurer · 23.12.2022
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Als der Struwwelpeter im Jahr 1845 erschien, waren die Geschichten, die Heinrich Hoffmann für seinen Sohn zu Weihnachten geschrieben hatte, auf dem Kinderbuchmarkt etwas völlig Neues. Es war der Beginn einer großen Erfolgsgeschichte.

"Sieh einmal, hier steht er.
Pfui! Der Struwwelpeter!
An den Händen beiden
ließ er sich nicht schneiden
seine Nägel fast ein Jahr.
Pfui! ruft da ein Jeder
Garst´ger Struwwelpeter!"

Ein Weihnachtsgeschenk für den Sohn

Im Dezember 1844 durchstöbert der Arzt Heinrich Hoffmann die Buchläden nach einem Bilderbuch als Weihnachtsgeschenk für seinen kleinen Sohn. Doch er findet nichts Passendes, nur alberne Bildersammlungen oder moralische Geschichten mit ermahnenden Vorschriften. Nichts für einen Dreijährigen! Und so schreibt er das Buch kurzerhand selbst.
Sechs kurze Geschichten über widerspenstige Kinder und einen schlauen Hasen in Bildern und Versen waren es anfangs. Die meisten der Figuren hatte sich Hoffmann, damals 35, praktischer Arzt und Armenarzt, schon vorher ausgedacht, im Umgang mit seinen kleinen Patienten.
Denn damals sagte man Kindern gern: "Wenn du nicht artig bist, dann kommt der Schornsteinfeger oder der Onkel Doktor!" Was dazu geführt hat, dass die Kinder alle höllische Angst vor dem Arzt hatten. Um seine kleinen Patienten zu beruhigen, zeichnete er beispielsweise einen kleinen Jungen, der sich nicht die Haare und die Nägel schneiden lässt.

Der erste Struwwelpeter

Im Urmanuskript taucht dieser Junge erst auf der letzten Seite auf und ist noch ein zerzaustes Kind mit roten Haaren. Die Haare verwildert, die Fingernägel endlos lang und gewunden. Neben seinem Kopf schweben Kamm und Schere.
Der kleine Carl hat am Weihnachtsabend seine helle Freude an dem Geschenk. Begeisterung auch bei den Freunden der "Literarischen Gesellschaft der Tutti Frutti" - darunter der Buchhändler Zacharias Löwenthal. Der hat mit dem Kaufmann Joseph Rütten gerade einen neuen Verlag gegründet, die "Literarische Anstalt". Dort kommt zur Weihnachtssaison 1845 das Heft als Buch heraus, unter dem Titel: "Lustige Geschichten und drollige Bilder mit 15 schön kolorirten Tafeln für Kinder von 3-6 Jahren."

Eine Bilderbuchkarriere

Im Struwwelpeter-Museum in Frankfurt kann man die unglaubliche Erfolgsgeschichte des Kinderbuchklassikers studieren, anhand von Erstausgaben, Übersetzungen, Nachdichtungen und Parodien. Und gleich daneben das Leben und sonstige Werk des Arztes Heinrich Hoffmann, der auch Reformer der Psychiatrie, satirischer Dichter und Zeichner, begeisterter Salongründer, politisch engagierter Bürger und vieles mehr war.
Zur Bilderbuch-Karriere des "Struwwelpeter" erzählt Museumsleiterin Beate Zekorn-von Bebenburg: "Schon im Januar musste dann nachgedruckt werden, 1846, und Hoffmann fügte noch zwei weitere Geschichten dann dazu, die Geschichte vom Paulinchen und die vom Zappel-Phillipp, die kommen dazu."

Wild und anarchisch

Während Kinder das Buch lieben, kritisieren Pädagogen es nicht etwa wegen der drastischen Geschichten, sondern wegen der "fratzenhaften" Bilder. Sie verdürben das ästhetische Gefühl des Kindes.
Die Kinder, heißt es, hätten immer nach dem "Struwwelpeter-Buch" verlangt. Weshalb sein Name schon 1846 im Titel erschien und er bald darauf von ganz hinten nach vorne wanderte.
"Ich glaub, dieses Wilde, Anarchische, Rebellische, was hier zu sehen ist, hat die Kinder von Anfang an immens fasziniert", sagt Beate Zekorn-von Bebenburg. "Hier ist einer, der sieht so anders aus, der macht all das nicht, was die Erwachsenen wollen, kämmt sich nicht, läßt sich die Haare wachsen, läßt sich die Fingernägel wachsen. Wie wunderbar ist das doch!"

Eine völlig neue Kinderbuchliteratur

Und er wird nicht einmal dafür bestraft, was von Pädagogen als Aufruf zur Rebellion kritisiert wurde. Kein gebesserter Struwwelpeter sei dort zu sehen, so dass den Kindern Flausen in den Kopf gesetzt würden.
Es gibt aber noch andere attraktive Vertreter des Ungehorsams und entschlossene Verweigerer im Buch. Den Suppenkaspar, Zappel-Philipp, Daumenlutscher – oder Paulinchen.
Der Kinderbuchforscher Peter Büttner meint dazu: "Hoffmann hat einen völlig neuen Kommunikationsstil in die Kinderliteratur gebracht. Also wenn man sich die Biedermeierliteratur mal aus der Zeit anguckt, dann überwiegt natürlich das gute Kind, das wohlerzogene Kind. Und Hoffmann kommt auf einmal daher und zeigt, wie Kinder eigentlich sind und hat quasi die Unarten der Kinder hier zelebriert."

Vorläufer des Comic

Die unartigen Kinder werden zwar vom Leben bestraft, aber mit so viel bizarrer Übertreibung, dass das schreckliche Ende fast schon wieder komisch wirkt.

Die Sendung wurde erstmals am 4. Dezember 2020 ausgestrahlt.

"Also, da ist eine Dynamik in dem 'Struwwelpeter' drin, die in der Biedermeierliteratur vollkommen fehlt," sagt Büttner. "Man hatte natürlich ABC-Bücher, die waren illustriert, Lesefibeln. Aber das waren letztlich keine erzählten Bilder, also Hoffmann hat ja das erzählte Bild geschaffen, wir würden heute sagen, das ist ein Vorläufer des Comics. Und das war eben das Neue: Er hat eigentlich das moderne Kinderbuch geprägt, das eigentlich auch eine enorme Befreiung für diese Zeit war."

Internationale Erfolge

1876 erscheint die 100. Auflage des Struwwelpeter, 1896, zwei Jahre nach Hoffmanns Tod, bereits die 200. Auflage. Die Bilderbuchkarriere des Struwwelpeter setzt sich auch im Ausland fort. Schon 1847 erscheint die erste dänische Übersetzung, es folgen Übertragungen in ganz Europa und in Amerika – alle innerhalb von vier Jahren. Gleichzeitig setzt eine Flut von Nachdichtungen und Parodien ein, "Struwwelpetriaden" genannt. Kein Kinderbuch wird so oft nachgeahmt und parodiert, außer "Alice im Wunderland".

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"Das hat damit zu tun, dass erstmals für den Kinderbuchbereich das Copyright griff und man nicht einfach den Struwwelpeter nachdrucken konnte", so erzählt Beate Zekorn-von Bebenburg. "Das wurde gerichtlich untersagt."
Der Verlag geht von Anfang an energisch gegen Raubdrucke vor. Es gibt zahlreiche Prozesse. Und ähnliche Bücher sowie politische Parodien, darunter berühmte englische Klassiker wie "Struwwelhitler - A Nazi Book by Doktor Schrecklichkeit" alias Robert und Phillip Spence, erschienen 1941.
Die Lust an der Struwwelpeter-Parodie setzt sich bis heute fort. Die uralten Verse zünden immer noch.

Die heutige Fassung

1858 zeichnet Hoffman die Bilder noch einmal komplett neu. Es ist die Fassung, die wir alle kennen.
Der Struwwelpeter sieht hier anders aus, hat eine dichte Mähne bis zu den Knien und macht ein finsteres Gesicht - passend zu den Versen. Der aber missfiel dem Publikum.
"Und etwa 1861 kommt dann der Struwwelpeter mit den blonden, runden, abstehenden Haaren," erzählt Beate Zekorn-von Bebenburg.
Der selbstbewusste, rotbackige Kerl auf dem Podest mit dem gewaltigen Afro, der wahrscheinlich gar nicht Hoffmanns Werk ist, sondern von einem Zeichner aus der Frankfurter Künstlerfamilie Klimsch stammt.

Zu viel Grausamkeit?

Ende der 1960er Jahre wurde der Struwwelpeter vom Sockel gestoßen. Er galt als ein brutales Kinderbuch, mit dem Kinder nur verängstigt oder eingeschüchtert werden. Deshalb sollte er aus den Kinderzimmern verbannt werden.
Doch Hoffmann hatte bewusst märchenhafte, grausige, übertriebene Vorstellungen hervorrufen wollen. Auch die Forschung ist inzwischen auf seiner Seite, wie Beate Zekorn-von Bebenburg sagt: "In der Kinderbuchforschung hat sich das sehr gedreht zugunsten des Struwwelpeter, dass also argumentiert wird, dass das Buch Kindern, wie die Märchen, Möglichkeiten gibt, mit eigenen Ängsten und Probleme zurecht zu kommen, dass es eben Spielmaterial, Phantasiematerial an die Hand gibt, um eigene Probleme benennen zu können."
Und Peter Büttner findet: "Es ist ja eben gerade dieser Humor, den die Kinder auch erkennen, dieses Überzeichnete, das gefällt den Kindern."
(DW)

Mitwirkende: Bettina Hoppe, Ole Lagerpusch, Bernhard Schütz und Birgit Dölling
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Thomas Monnerjahn
Redaktion: Dorothea Westphal

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