Endlich in den Spiegel blicken
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Schon die Wortfindung ist heikel. Die Veranstalter rufen ein Festjahr aus, kein Jubiläum. Denn zum Jubeln seien die 1700 Jahre jüdischer Geschichte in dem Gebiet, das heute Deutschland heißt, eher nicht. Ein Kommentar von Gerald Beyrodt.
"Schalömchen, Köln" steht zum Festjahr als Werbung auf Kölner Straßenbahnen. Das soll lustig wirken und lebensfroh, humorvoll womöglich. Doch ich bin peinlich berührt. Es soll locker wirken und ist doch verkrampft. Schalömchen Köln, Hallöchen, Prösterchen: Das klingt nach Sektlaune. So, als ob man etwas herunterspülen muss.
Hinter solchen Slogans mag der Wunsch stehen, lebensfroher über das Judentum zu sprechen. Und in der Tat haben sich die Initiatoren des Festjahres auf die Fahnen geschrieben, lebendige jüdische Kultur zu zeigen, Interessierten die Möglichkeit zu geben, Jüdinnen und Juden besser kennenzulernen, so wie man einen Nachbarn kennenlernt. Leider nur "wie" Nachbarn, denn die wenigsten haben jüdische Nachbarn. Dazu gibt es viel zu wenig Jüdinnen und Juden - und das hat Gründe.
Antisemitismus sitzt tiefer, als viele denken
Ich kann den Wunsch, lebendige jüdische Kultur zu zeigen, gut verstehen. Weil das Judentum eine lebendige Kultur und Religion ist. Weil die Geschichte der Shoah und des Antisemitismus den Blick auf jüdische Religion und jüdische Menschen verstellen kann. Weil viele nur über Antisemitismus etwas wissen und wenig über jüdische Religion. Sie sitzen dem Irrtum auf, im Judentum müsse alles todtraurig zugehen. Zudem begegnet man in Deutschland lebendigen Juden wie Angehörigen einer eigentlich ausgestorbenen Spezies. Das kann nerven.
Doch über den Antisemitismus in Deutschland und Europa ist längst nicht alles gesagt. Er sitzt tiefer, als viele denken. So wichtig es ist, lebendige jüdische Religion und Kultur kennenzulernen, so wichtig ist auch der Blick zurück.
Ich lese gerade Biografien berühmter jüdischer Denker aus den letzten 2000 Jahren. In fast allen diesen Leben spielen Gewalt, Pogrome und Vertreibungen eine wichtige Rolle. Die Denker sind übrigens nur in jüdischen Kreisen berühmt – auch unter Kulturbeflissenen sind Namen wie Raschi, Rambam und Rabbi Akiba weitgehend unbekannt.
Selbsttäuschung über Weltoffenheit und Toleranz
Der Blick in die jüdische Geschichte in Europa offenbart sicher viel Positives und erstaunliche Kooperationen. Aber es wimmelt von Pogromen – zur Zeit der Reconquista, der Kreuzzüge oder auch zur Zeit der Pest. Die meisten jüdischen Gemeinden haben sich nach den Pestpogromen nicht mehr erholt. Die Überlebenden wanderten häufig nach Osteuropa ab. Für solche Umstände hat man in Deutschland ein ebenso kurzes Gedächtnis wie in Spanien für die Vertreibungen unter der Inquisition.
Häufig ist in wohlklingenden Reden von europäischen Werten die Rede. Rassismus und Antisemitismus stehen selten auf der Liste der Werte. Die Konsequenz ist eine große Selbsttäuschung. Man sei doch weltoffen und tolerant, denken die Deutschen von sich – bis auf zwölf nicht ganz so glückliche Jahre.
Doch Weltoffenheit ist nur zu erreichen, wenn man sich nachhaltig Gedanken macht über das, was ihr entgegensteht. Die permanente Unterschätzung des Antisemitismus – sie gehört zum Alltag in Deutschland. Anders ist es kaum zu erklären, dass man in Sachsen-Anhalt glaubte, am höchsten jüdischen Feiertag reiche es, ab und an eine Polizeistreife an der Synagoge in Halle vorbeifahren zu lassen.
Kirchliche Judenfeindschaft wirkt bis heute
Der Antisemitismus heutiger Prägung wäre ohne die kirchliche Judenfeindschaft nicht möglich gewesen. Es gibt eine Verbindung von den mittelalterlichen Verschwörungsmythen wie Hostienfrevel und Brunnenvergiftung zu den Mythen, die den Attentäter von Halle antrieben. Die Verbindung lautet: "An allem sind die Juden schuld."
Die katholische und die evangelische Kirche wenden sich inzwischen gegen eine Theologie, die glaubt, das Judentum ersetzen zu können. Das ist löblich, doch ehrlich gesagt das Mindeste, was man erwarten kann. Leider haben Christen die Texte des Neuen Testaments jahrhundertelang als Statement gegen die jüdische Religion gelesen. Das wirkt nach bis heute.
Zusammenhänge werden nicht erklärt
Die Worte "Hohepriester" und "Pharisäer" klingen bis heute negativ im Deutschen. Dabei waren die Pharisäer eine wichtige jüdische Laienbewegung. Die Texte des Neuen Testaments sind zum Teil aus einer Rivalität unterschiedlicher jüdischer Gruppen entstanden: denen, die für Jesus waren, und denen, die mit ihm nichts anfangen konnten. Doch sie klingen heute wie eine Verdammung "der Juden".
Kaum ein Pfarrer macht sich die Mühe, seiner Gemeinde die historischen Zusammenhänge zu erklären oder in der Predigt die Intentionen der Texte aufzudecken. So lange das nicht geschieht, nützen Lippenbekenntnisse der Kirchenoberen wenig. In der Tat gäbe es jede Menge herunterzuspülen, wenn man die europäisch-jüdische Geschichte denn mit Sekt bewältigen wollte. Was hilft wirklich? Europa muss endlich in den Spiegel blicken. Auch wenn es wehtut.