150. Geburtstag von Mahatma Gandhi

Verehrt wie ein Gott

10:03 Minuten
Pappmasken von Ghandi werden von unterschiedlichen Menschen auf der Straße getragen.
Wir sind Gandhi: Studierende tragen Masken mit dem Gesicht des indischen Freiheitskämpfers bei einer Feier im Vorfeld seines 150. Geburtstags. © AFP/ Dibyangshu SARKAR
Von Antje Stiebitz  · 29.09.2019
Audio herunterladen
In Indien ist Mahatma Gandhi überall gegenwärtig. Der gewaltlose Kämpfer gegen die britische Kolonialmacht war zwar Hindu, stand aber in vielem über den Religionen – und für manche ist er ein fleischgewordener Gott.
Neu-Delhi, Raj Ghat, eine Gedenkstätte am Westufer des Flusses Yamuna. Die weitläufig angelegte Grünanlage erinnert an den Widerstandskämpfer Mahatma Gandhi. Am 31. Januar 1948 äscherte man hier seinen Leichnam ein. Aus Lautsprechern klingen Bhajans, religiöse Lieder. Das Denkmal besteht aus einer quaderförmigen Marmorplatte – geschmückt mit frischen Blumenarrangements. Eine ewige Flamme brennt.

Für die einen religiös, für die anderen säkular

Ein Grundschulklasse mit rund 30 Schülern in blau-weißer Schuluniform kommt gerade an. "Wir wollen den Kindern Mahatma Gandhi zeigen", sagt die Lehrerin Barthi Chapra. "Seine Geschichte kennen sie bereits. Er war sehr friedlich und religiös. Er hat für uns gekämpft. Darüber müssen die Kinder Bescheid wissen."
Einer der Besucher hat zugehört und mischt sich ein. Sein Name ist Narashima Reddy, er ist aus Südindien angereist. Ja, stimmt er zu, Gandhi habe für Indien gekämpft und gelte als Vater der Nation. Aber was die Religiosität Gandhis betrifft, ist Reddy ganz anderer Meinung: "Nein, er war kein religiöser Mann. Er dachte säkular. Er hatte keine Religion."
Gandhi Statue vor dem Museum in Delhi.
Wie hielt er es mit der Religion? Statue vor dem Gandhi Memorial Museum in Neu-Delhi© Deutschlandradio/ Antje Stiebitz
Nur wenige hundert Meter von Gandhis Denkmal entfernt befindet sich das National Gandhi Museum. Hier muss sich doch eine Antwort darauf finden, wie Gandhi es mit der Religion hielt. Der Direktor des Museums, Alagan Annamalai, formuliert es so:
"Gandhi war religiös. Aber er hat immer gesagt, dass ihn seine Religion nicht daran hindert, Menschen mit anderen Glaubensrichtungen zuzulassen. Denn alle Glaubenstraditionen sind dazu da, das Schicksal der Menschheit zu formen. Obwohl er einer bestimmten Tradition angehört und sich selbst stolz als Hindu bezeichnet, respektiert er alle religiösen Traditionen."

An Erleuchtung nicht interessiert

In einem der Museumsräume läuft eine Dokumentation von Gandhis Leben über den Bildschirm. An den Wänden können die Besucher gerahmte Zitate von und über Gandhi lesen. Einen Stock höher hängt ein Bild von Gandhi, auf dem er einen Heiligenschein trägt.
War Gandhi ein Heiliger, ein Seher? Der Museumsdirektor lacht. Gandhi sei immer wieder gefragt worden, warum er sich nicht in die Berge des Himalaya zurückziehe, um Erleuchtung zu finden. Er habe geantwortet:
"Ich finde Gott durch die Arbeit mit den Menschen. Besonders mit den Menschen, die bedürftig sind. Dort sehe ich Gott, nicht im Himalaya-Gebirge."

Von allen Religionen etwas lernen

Im Norden der Stadt liegt der Campus der Delhi-Universität. Satish Deshpande unterrichtet am dortigen Institut für Soziologie. Der Professor hat sich intensiv mit Gandhis Leben und Wirken auseinandergesetzt. Gandhis Umgang mit Religion hält er für außergewöhnlich:
"Er ist auf seltsame Weise über die Religion hinausgewachsen. Durch die Religion hindurch, ohne sie zurückzuweisen. Es gelang ihm, die institutionalisierte, organisierte Seite von Religion zu meiden und Zugang zu einem tiefen, gemeinsamen Glauben zu finden."

War Gandhi ein Mystiker?

Könnte man Gandhi also als einen Mystiker bezeichnen? "Er hat Religion als etwas Universales begriffen", sagt Satish Deshpande. "Sein Hindu-Sein hat ihn nie davon abgehalten, an den Islam oder den Buddhismus zu glauben - an alle Religionen zu glauben und von allen etwas zu lernen."
Gandhi habe orthodox-religiöse Strömungen abgelehnt, ohne die Existenz Gottes anzuzweifeln oder zu verneinen – wie es etwa Kommunisten tun, so Deshpande: "Er war in der Lage, den religiös Orthodoxen etwas entgegen zu setzen, was aus der Religion selbst kam."
Gandhi Statue auf der Straße in der indischen Stadt Porbandar.
Bis heute mitten unter den Menschen: Standbild in Gandhis Geburtsstadt Porbandar© Deutschlandradio/ Antje Stiebitz
Geboren wurde Gandhi in der Kleinstadt Porbandar im Bundesstaat Gujarat. Sein Geburtshaus ist heute eine Gedenkstätte, Kirti Mandir genannt. Was wörtlich "Tempel des Ruhms" bedeutet. Ich frage eine Angestellte der Gedenkstätte, Puja Esammani, ob Gandhi hier von den Besuchern wie ein Gott verehrt wird?

Kein Gott – und dennoch wie einer verehrt

"Wegen seiner guten Taten für die Gesellschaft wollten ihn viele Menschen zum Gott machen", sagt Esammani. "Aber Gandhi hat sich selbst nie als Gott betrachtet oder gewollt, dass die Menschen ihn als solchen sehen. Dieser Ort heißt zwar 'Tempel des Ruhms', aber man findet hier keine Statue wie in einem Tempel. Außerdem gibt es hier auch keinen Gottesdienst wie in einem normalen Tempel."
Surekha Sha sitzt in ihrem Wohnzimmer auf einem Sofa. Die Ärztin lebt seit 35 Jahren in Porbandar. Ihr Großvater war ein Freiheitskämpfer, deshalb beschäftigt sie sich bis heute mit dem Wirken Gandhis. Gandhi werde durchaus als Gott verehrt, erklärt sie, als ein "Avatar", eine Inkarnation Gottes. In der indischen Philosophie sei es nicht ungewöhnlich, dass Gott weltliche Formen annimmt.

Gandhi ist in Indien überall

"Nach dem göttlichen Avatar Ram kam Buddha", sagt Surekha Sha. "Und nach Buddha: Gandhi. Daran glauben manche Menschen. Zumindest war er aber ein großer Heiliger. Wenn man ihn nicht als Avatar betrachtet, dann war er doch zumindest eine außergewöhnliche Person."
Jeder indische Rupienschein trägt das Gesicht Gandhis. In jeder Stadt gibt es mindestens eine Straße, die seinen Namen trägt. Hinzu kommen unzählige seiner Statuen. Sein Geburtstag am 2. Oktober wird in Indien als Feiertag begangen. Der Ehrentitel Mahatma, der Gandhi zugesprochen wurde, bedeutet so viel wie "große Seele". Das sei die wörtliche Übersetzung, erklärt der Soziologe Satish Deshpande, "aber für die Leute bedeutet das: Jemand, der Anbetung verdient. Ein Mensch, aber der Verehrung würdig."
Eingang des Shri Lakshminarayan-Tempels in Indien. 
Wer hat Zutritt zu den Göttern? Vor dem Shri Laxminarayan Tempel protestierten orthodoxe Hindus 1928, weil Gandhi die "unberührbaren" Dalit hinein ließ.© Deutschlandradio/ Antje Stiebitz
Die Kleinstadt Wardha im Bundesstaat Maharashtra. Im Shri-Laxminarayan-Tempel hat gerade die Gebetszeremonie begonnen. Der Pujari schwenkt eine Flamme vor dem Bildnis, zwei Musiker schlagen auf Trommeln einen monotonen Rhythmus.

Tempelzugang auch für "Unberührbare"

Dieser Tempel sorgte am 17. Juli 1928 in ganz Indien für Schlagzeilen. Premnath Pandey, der Sekretär des Tempels, erzählt, was damals geschah: "Früher konnte nicht jeder den Tempel betreten. Aber Gandhi und sein Adoptivsohn Jamnalal Bajaj ließen die Unberührbaren mit der ganzen Gemeinde in den Tempel kommen."
Morgens um acht Uhr standen die als "unberührbar" herabgewürdigten Dalit vor dem Tempel, sangen religiöse Lieder und betraten schließlich den Tempel, so Pandey. Bis mittags gegen zwölf Uhr hatten rund 2000 Dalit zum ersten Mal in ihrem Leben einen Tempel besucht. Eine Revolution in jener Zeit – orthodoxe Hindus protestierten entschieden gegen den Tempelzugang für die Dalit.

Die andere Seite: der konservative Gandhi

Die Gemeinschaft der Dalit hingegen war trotz des neu gewonnenen Tempelzugangs von Gandhi enttäuscht. Vor allem, weil er ihren Anführer Bhimrao Ramji Ambedkar in seinem Kampf um mehr Rechte für die Dalit nicht wirklich unterstützte.
Ambedkar, der Architekt der indischen Verfassung, musste ernüchtert feststellen, dass auch Gandhi ein "Kind seiner Zeit" war. "Gandhi hatte die Perspektive von Angehörigen einer höheren Kaste. Und er bemerkte das selbst nicht", erklärt Satish Deshpande.
Zu den Muslimen im Land pflegte Gandhi ein freundschaftliches Verhältnis. Er wollte die in Nordindien bestehende gemeinsame Kultur von Hindus und Muslimen erhalten. Diese Kultur lebt davon, dass alle gemeinsam die Feste der jeweils anderen Religion mitfeiern und deren Traditionen kennen – ohne zu konvertieren.

Ermordet von einem rechtsextremen Hindu

Als sich Indiens Unabhängigkeit abzeichnete, wollte Gandhi, dass der muslimische Politiker Muhammad Ali Jinnah der erste indische Premierminister wird. "Er wollte, dass sich die Mehrheitsgesellschaft der Hindus gastfreundlich zeigt und den Minderheiten erlaubt, sich sicher zu fühlen", sagt Deshpande. "Dafür war er bereit, viel aufzugeben."
Gandhi versuchte, im Umgang mit den Muslimen Indiens fair zu sein. Er schützte sie und forderte von ihnen – wie von den Hindus auch – Gewaltlosigkeit. Mit dieser kooperativen Haltung gegenüber Muslimen zog Gandhi den Hass rechtsextremer Hindus auf sich.
Der Hindu-Nationalist Nathuram Godse tötete Mahatma Gandhi am 30. Januar 1948 mit drei Schüssen. Seine Begründung für den Mord: Ghandi habe die muslimische Gemeinschaft auf Kosten der Hindus unterstützt. Und so seine Hindu-Religion und Kultur verraten.
Unsere Autorin Antje Stiebitz reiste als Gast des Indian Council for Cultural Relations (ICCR) nach Indien. Die Recherche für diesen Beitrag wurde vom ICCR finanziert und mit dessen Hilfe durchgeführt.
Mehr zum Thema