15 Kilo weniger in 15 Wochen

Als ihre 14-jährigen Zwillingstöchter Marie und Anna kurz hintereinander an Magersucht erkrankten, hatte Caroline Wendt binnen weniger Wochen an allen Fronten zu kämpfen.
Zum einen waren da die Sorge um ihre Kinder und die Suche nach der richtigen Therapie. Zum anderen musste sie sich gut gemeinter, aber wenig hilfreicher Ratschläge von Bekannten erwehren und, schlimmer noch, der Vorwürfe verschiedener Therapeuten. Denn für viele von ihnen gehört zu einem magersüchtigen Kind eine schuldige Mutter. So zumindest hat es Caroline Wendt erlebt, die sich von manchem Psychologensatz wie "von einem Vorschlaghammer getroffen" fühlte. Nicht zuletzt deshalb hat sie ihre Erfahrungen mit der Krankheit ihrer Töchter nun zu einem Buch verarbeitet.

Caroline Wendt erzählt minutiös, wie sich die Krankheit ihrer Kinder in den Lebensalltag der Familie schob und das gesamte Gefüge aus der Balance brachte. Waren sie und ihr Mann anfangs noch unsicher, ob der Diätwahn Maries vielleicht harmlos sein könnte, erweist er sich bald als das Gegenteil. Ihre Tochter wird immer dünner – 15 Kilo Gewichtsverlust in 15 Wochen – und immer unzugänglicher. Als schließlich Versprechungen, ein verabredetes Mindestgewicht zu halten, gebrochen werden, und die Zwillingsschwester Anna auch noch in den Sog der Krankheit gerät, ist klar, dass die Familie ohne Hilfe von außen nicht mehr zurechtkommt.

Es folgt eine Ärzte- und Therapeutenodyssee, die allen Beteiligten viel abverlangt. Caroline Wendt beschreibt eindrücklich, was ihr geholfen hat – ein urteilsfreier Umgang beispielsweise –, und was sie vermisste, nämlich die Einbindung der ganzen Familie. Da die meisten Therapeuten davon ausgingen, dass die Angehörigen Ursache des Problems seien, würden sie diese vom Heilungsprozess ausschließen. Wendt hält sich hier mit Vorwürfen nicht zurück, verschweigt aber auch nicht ihre eigenen Fehler, weil sie in ihrer Sorge viel zu emotional reagierte. Am Ende jedoch macht die ganze Familie einen Reifungs- und Heilungsprozess durch, den der Leser Schritt für Schritt miterleben und nachvollziehen kann.

Wendt hat ihr Buch klug komponiert. Sie schildert konsequent ihre Sicht auf die Dinge, nicht zuletzt durch immer wieder einfließende Tagebuchaufzeichnungen, lässt aber auch andere zu Wort kommen: Anna und Marie schreiben je ein eigenes Kapitel, und für das Schlusswort konnte Wendt mit Manfred Fichter (Professor an der Psychosomatischen Klinik Roseneck und der Psychiatrischen Universitätsklinik München) einen namhaften Experten als Beiträger gewinnen. Er komplettiert das Buch mit der notwendigen wissenschaftlichen Einordnung, mit Fakten zur Krankheit und gibt Rat im Umgang damit. Zudem berichtet Fichter von nicht weniger als einem Paradigmenwechsel: Mittlerweile wisse man, dass Eltern sehr viel tun können, um ihren kranken Kindern zu helfen. Bis sich diese Erkenntnis flächendeckend durchsetzt, können Angehörige von Magersüchtigen in Wendts Darstellung – zumindest in Buchform – die Hilfe finden, die sie selbst vermisst hat.

Besprochen von Eva Hepper

Caroline Wendt: Ich kann nicht anders, Mama. Eine Mutter kämpft um ihre magersüchtigen Töchter
Knaur Verlag, München 2011
288 Seiten, 9,99 Euro
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