1000 Jahre deutsche Lyrik

02.01.2008
Der Germanist Heinrich Detering gibt in seiner Anthologie einen fulminanten Überblick über die deutsche Lyrik. "Reclams großes Buch der deutschen Gedichte" hat nicht nur Platz für die Klassiker, sondern auch für Ungewohntes und Vergessenes aus den vergangenen Jahrhunderten.
Heinrich Detering, Jahrgang 1959, ist nicht nur einer der fleißigsten deutschen Germanisten und Literaturwissenschaftler, sondern zugleich ein Gelehrter mit Sendungsbewusstsein, der sich nicht festlegen lassen möchte. Als Präsidenten der Theodor-Storm-Gesellschaft kann man ihn ebenso erleben wie als enthusiasmierten Bob-Dylan-Exegeten. Solche Offenheit und Vielseitigkeit kommt ihm nun als Herausgeber einer großen Lyrik-Anthologie zugute, die den Anspruch erhebt, neben Klassikern wie dem "neuen Conrady" oder Reich-Ranickis "Kanon" das Beste aus tausend Jahren deutscher Dichtung herauszufiltern.

Natürlich erfindet Detering die deutsche Lyrik nicht neu. Auch in seinem Buch finden sich viele klassische Verse, auch hier ist für Goethe, Schiller, Hölderlin, Heine, Benn und Brecht viel Platz reserviert. Was rein muss, ist meist drin. Der Reiz besteht darin, dass das Standardrepertoire (zumindest für versierte Lyrik-Leser) jederzeit mit Überraschendem wechselt. Lust an (Wieder-) Entdeckungen, Mut zur Konfrontation von Bewährtem mit Unerhörtem, Vergessenen zeichnen dieses Gedichtbuch aus und beleben die Lektüre. Neben Heinrich Heine steht zum Beispiel der unbekannte frühverstorbene Spätromantiker Friedrich Begemann, neben dem feierlichen Rilke ein spöttischer schwedischer Poet namens Gustav Fröding, der auch in deutscher Sprache dichtete. Und selbst Kenner der Spätaufklärung haben womöglich den Namen des Freiherrn Edzard Mauritz zu Innhausen und Knyphausen (1748-1824) bisher nicht auf ihrer Liste gehabt. Dieses Prinzip der Durchmischung bestimmt auch die Auswahl der einzelnen Gedichte eines Autors. So findet sich vom Frühaufklärer Barthold Hinrich Brockes, der in den neun Bänden seiner beobachtungsscharfen Gedichtsammlung "Irdisches Vergnügen in Gott" das Lob der besten aller möglichen Welten sang, eben nicht nur die bekannte "Kirsch-Blühte bey der Nacht", sondern auch ein hinreißendes vierseitiges Gedicht über den Zahnschmerz, das zumindest anfangs keineswegs auf Optimismus gestimmt ist.

Gedicht-Anthologien wie diese waren einmal Bollwerke der "Nationalliteratur". Solche Abgrenzungen sind längst fragwürdig geworden, und Detering lässt die Luft der Weltliteratur herein, indem er auch besonders gelungene Nachdichtungen etwa von Shakespeare- oder Bibelversen berücksichtigt. So eröffnet sich ein intertextuelles Spiel, das der Herausgeber überhaupt als Bedingung von Poesie herausstellt: Gedichte entstehen nicht selten aus Gedichten, verarbeiten alte Klangreize, lassen sich auf Echos der Tradition ein oder ergehen sich in kryptischen Anlehnungen. Vielfach weist Detering mittels dezenter Anmerkungen auf solche Zusammenhänge hin. Mehr noch, seine Auswahl inszeniert ein lyrisches Gespräch der Epochen. So antwortet das letzte Gedicht von Peter Rühmkorf auf das allererste aus den Merseburger Zaubersprüchen; so ziehen sich Themen wie die Klage auf einen toten Hund (auch dies ein eher ungeläufiges Motiv der lyrischen Tradition) durch die Jahrhunderte. Das nimmt der Sammlung die Beliebigkeit und erhöht auch die Entdeckungsfreude des Lesers. Zu dieser tragen schließlich auch die 150 Seiten mit Kurzbiografien am Ende des Buches bei – keine langweiligen Auflistungen von Preisen, Werken und Lebensläufen, sondern gedrängte Portraits, in denen ein Dichter-Leben pointiert zusammengefasst wird.

Der Herausgeber sieht sich nicht in der Pflicht, jeden lyrischen Enthusiasmus zu dokumentieren. Er nimmt sich das Recht, seinem eigenen Geschmack und Qualitätsbewusstsein Recht zu verschaffen. Breit ist das Spektrum der Tonlagen. Neben das Erhabene, das seit je in den Anthologien seinen Platz hat, tritt ein ausgeprägter Sinn für die lyrische Hochkomik, die die Brüche und Niederungen der menschlichen Existenz in subtile Worte, Reime und Pointen fasst.

Gerade bei den Dichtern der letzten Jahrzehnte, die meist nur durch ein oder zwei Gedichte repräsentiert sind, wundert man sich gelegentlich über die Auswahl – warum gerade dieses? Warum gleich drei Gedichte des vielleicht doch etwas überschätzten Dirk von Petersdorff, warum neun Seiten für Heiner Müller, mehr als für jeden anderen Dichter nach Benn und Brecht? "Es ginge auch anders – aber so geht’s auch", antwortet Detering lässig am Ende des Vorworts.

Ärgerlich ist allein die äußere Aufmachung des Buches: sehr unhandlich und bleischwer, als wäre es auf ein protziges Kaliber im Bücherregal abgesehen. So ist man zum stationären Lesen am Tisch gezwungen. Aber wer liest schon so Gedichte? Eine Anthologie sollte sich für ambulante Lektüren empfehlen, in die Jacken- oder Umhängetasche passen. Für diesen Band braucht man jedoch einen Rollkoffer.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Heinrich Detering: "Reclams großes Buch der deutschen Gedichte. Vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert".
Philipp Reclam jun., Stuttgart 2007
1001 Seiten, 36,90 Euro