100 Jahre politischer Mord

Illegale Waffenlager in Deutschland

06:11 Minuten
Verschrottetet Geschütze und Waffen 1920, die eingeschmolzen werden sollen.
Wie hier 1920 sollten laut Versailler Vertrag deutsche Geschütze und Waffen zerstört und eingeschmolzen werden. Zu oft erfolgte das jedoch nicht. © picture-alliance / akg-images
Von Elke Kimmel · 23.02.2022
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Nach dem Ersten Weltkrieg mussten laut Versailler Vertrag deutsche Kriegswaffen zerstört oder abgegeben werden. Viele widersetzen sich dieser Anordnung. Die sukzessive illegale Aufrüstung wurde parteiübergreifend sogar geduldet.

Militärische Kontrolle auf unbestimmte Zeit? Nach Erklärungen der ‚Times‘ hat die englische Regierung ihre Zustimmung zu dem von Mitgliedern der interalliierten Militärkontrollkommission ausgedrückten Wunsch gegeben, wonach die militärische Kontrolle in Deutschland noch während einer unbestimmten Zeit fortzusetzen ist. Nach einer Londoner Havasmeldung stützt sich dieser Entschluß Englands auf die jüngsten Waffenfunde und die geheimen Waffenlager.

Das schreibt das liberale „Berliner Tageblatt“ am 22. Februar 1922. Den Verweis auf die „geheimen Waffenlager“ hat die Redaktion mit einem Fragezeichen markiert – offenbar, um die Glaubwürdigkeit dieses Verdachts anzuzweifeln.
Im Versailler Friedensvertrag von 1919 ist Deutschland verpflichtet worden, die allgemeine Wehrpflicht außer Kraft zu setzen und die Armee auf 100.000 Mann zu begrenzen. Artikel 169 des Versailler Vertrages legt auch fest, wie viele Waffen im Deutschen Reich vorhanden sein dürfen:

Binnen zwei Monaten nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags sind die deutschen Waffen, Munitionsvorräte und das Kriegsgerät einschließlich jeden Flugabwehrgerätes, die in Deutschland über die zugelassenen Mengen hinaus vorhanden sind, den Regierungen der alliierten und assoziierten Hauptmächte zur Zerstörung oder Unbrauchbarmachung auszuliefern. Dasselbe gilt für alle für die Anfertigung von Kriegsgerät bestimmten Werkzeuge und Maschinen, abgesehen von dem, was als notwendig für die Bewaffnung und Ausrüstung der zugelassenen deutschen Streitkräfte anzuerkennen ist.

Diese Bestimmungen, auch die Reduzierung der Waffen stößt bis weit ins sozialdemokratische Lager hinein auf Ablehnung. Gerade an der Ostgrenze, wo sich Deutschland von Polen bedroht fühlt, scheinen Bewaffnete nahezu unverzichtbar. So beteuert der sozialdemokratische „Vorwärts“ am 12. März 1920:

Deutschland denkt nicht daran, irgendwelche geheimen Waffenlager zu unterhalten. Alle Vorgänge spielen sich vor Augen der Ententekommissionen ab, die mit zahlreichen Unterkommissionen das ganze Reich überschwemmt haben. Sämtliche in den Händen der Armee und des Reichsschatzministeriums befindlichen Waffen werden den Ententeausschüssen pflichtgemäß angezeigt. Wenn während der Revolution und der Unruhen des letzten Jahres vereinzelt Waffen in die Hände von Unbefugten geraten sind und von ihnen verborgen gehalten werden, so entziehen sich diese Mengen naturgemäß der Kenntnis und Verantwortung der deutschen Regierung, werden aber solche versteckten Waffenlager entdeckt, so werden sie sofort beschlagnahmt und dann wie die amtlichen behandelt.

Im Laufe der folgenden Monate wird jedoch deutlich, dass sich vor allem rechtsradikale Organisationen wie die „Orgesch“, die „Organisation Consul“ und Angehörige der eigentlich aufgelösten Freikorps mit Waffen versorgen. Offensichtlich haben viele Rechte den Stichtag 1. November 1920, bis zu dem illegale Waffen straffrei abgegeben werden konnten, ungenutzt verstreichen lassen. Die „Freiheit“ und der „Vorwärts“, die Zeitungen der beiden sozialdemokratischen Parteien, berichten darüber:

„Waffenlager der Orgesch. Waffenfunde und Waffenschiebungen“
„Waffenfunde in Frankfurt a. M.“
„Waffenlager in Cottbus“
„Die Prenzlauer Waffenfunde“
„Reichswehr und Waffenverschiebung. Geheime Waffenlager bei Görlitz“
„Wieder ein Waffenlager entdeckt!“
„Die Potsdamer Waffenschieber“
„Orgesch entlarvt! Das Geständnis eines Offiziers. Diebstahl beschlagnahmter Waffenlager. Bewaffnete Geheimverbindungen überall“
„Waffenlager in Schöneberg. Das Rathaus mit der schwarz-weiß-roten Fahne“
„Entdeckung eines Waffenlagers“
„Ein Waffenlager bei Brandenburg“

Demgegenüber spielt die bürgerliche Presse das Ausmaß der illegalen Bewaffnung herunter. Die „Bonner Zeitung“ etwa meldet am 21. November 1921:

Bei der von Entente-Offizieren vorgenommenen Untersuchung eines Schlosses in dem Gebiete von Ochsenfurt wurde Pferdeausrüstungsgegenstände aus Heeresbeständen vorgefunden (…). Waffen konnten nicht gefunden werden.

Ein parteienübergreifender Wehrkonsens sorgt dafür, dass auch die Demokraten über die illegale Aufrüstung hinwegsehen. 1927 richtet die Reichsregierung unter dem Zentrumspolitiker Wilhelm Marx sogar einen Ausschuss ein, der aufpassen soll, dass die illegale Aufrüstung nach den Regeln des ordentlichen Haushaltsrechts abläuft. Zu diesem Zeitpunkt liegt die Kontrolle bereits beim Völkerbund, dem Deutschland 1926 beigetreten ist.

100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe von Deutschlandfunk Kultur in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung
immer mittwochs um 19.20 Uhr in den „Zeitfragen“
Autorin: Elke Kimmel

Seit 1920 hat die Interalliierte Kontrollkommission über 30.000 Kontrollen durchgeführt und Millionen von Waffen zerstören lassen. Dennoch bleiben viele Waffenlager unentdeckt. Nicht unwahrscheinlich, dass die „Freiheit“ mit ihrer sarkastischen Einschätzung vom 8. Dezember 1921 richtig liegt:

Die Entwaffnung ist restlos durchgeführt – aber nur, sofern die Arbeiter in Betracht kommen. Die Reaktion verfügt immer noch über zahlreiche Lager.

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