100 Jahre Grundschule

Stolz auf die Erfolgsgeschichte und Sorge um die Zukunft

08:28 Minuten
Ein Junge steht an einer Tafel im leeren Klassenraum.
Der Schulalltag ist nicht nur für die neuen Lernenden eine Herausforderung. © imago/ Jérôme Gorin
Hans Brügelmann im Gespräch mit Ute Welty  · 13.09.2019
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Die Gesellschaft profitiere davon, wenn alle Kinder die gleichen Chancen hätten, sagt der Pädagoge Hans Brügelmann. Anlässlich von 100 Jahre Grundschule erinnerte er daran, dass es Eltern nicht nur um ihr eigenes Kind gehen sollte, sondern um alle.
Ute Welty: Kinder lernen Zukunft – das ist das Motto des diesjährigen Grundschulkongresses, und der beginnt heute in Frankfurt am Main. Neben der vielen Arbeit gibt es auch Grund zu feiern: Den Veranstalter, den Grundschulverband, den gibt es seit 50 Jahren, und die Grundschule an sich, die ist vor 100 Jahren eingeführt worden. Hans Brügelmann ist Bildungsjournalist und hat lange an der Universität Siegen als Professor für Erziehungswissenschaften gelehrt und geforscht. Außerdem engagiert er sich im Deutschen Grundschulverband und feiert deshalb in Frankfurt mit.
Ist Ihnen überhaupt nach Feiern oder ist Ihnen ganz anders, wenn Sie heute an die Grundschule denken?
Brügelmann: Es ist beides. Auf der einen Seite ist es Stolz darauf, dass diese Einrichtung über 100 Jahre viel geleistet hat, was die Integration betrifft. Denken Sie, dass früher Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet wurden, dass wir Bekenntnisgrundschulen hatten, wo nach katholischem und evangelischem Glauben getrennt unterrichtet wurde, dass vor 1919 es eine starke Trennung gab zwischen den Kindern, die aus den oberen Mittelschichten kamen und hinterher auf das Gymnasium gingen, die wurden getrennt unterrichtet von den normalen Volksschülern.
Das ist schon eine Erfolgsgeschichte, aber andererseits haben, glaube ich, viele Hörerinnen und Hörer auch in dieser Woche mitbekommen, was an Prognosen über den Lehrermangel für die nächsten zehn Jahre durch die Presse gegangen ist, und das macht uns natürlich schon Sorgen.

Unterschiede im Unterricht

Welty: Die Grundschule war und ist konzipiert als eine für alle, Sie haben es eben schon angesprochen. Inwieweit muss man da umdenken, weil alle eben so unterschiedlich geworden sind?
Brügelmann: Das hat Konsequenzen für die Art des Unterrichts. Früher war es ja so, dass man gesagt hat, alle schlagen bitte Seite 24 im Rechenbuch auf und bearbeiten die Aufgabe fünf, heute wissen wir, dass die Unterschiede an Erfahrungen, an Vorkenntnissen, die die Kinder in die Schule mitbringen, ungefähr drei Jahre auseinanderliegen, also dass die Kinder etwa einem durchschnittlich Fünfjährigen und einem durchschnittlich Achtjährigen entsprechen in dem, was sie schon können.
Am Tag der Einschulung ditzen drei Jungen mit Schultüten und ihren Süßigkeiten auf einer Mauer.
Erstklässler in den 1950er Jahren freuen sich über den süßen Start in das Schulleben.© dpa/ Kurt Röhrig/ Helga Lade
Das erfordert in der Tat, dass der Unterricht sich öffnet für diese Unterschiede. Viele Eltern beobachten das ja dann auch in den Klassen, dass Kinder nebeneinander an unterschiedlichen Aufgaben arbeiten, denn das Ziel ist, dass jedes Kind seinen nächsten Schritt tun kann hin auf die gemeinsamen Ziele, die die Grundschule verbindet.
Welty: Das Problem mit dem Lehrermangel wird dadurch nicht kleiner.
Brügelmann: Absolut nicht, und deshalb dringt der Grundschulverband auch darauf, wenn jetzt Seiteneinsteiger in die Schule kommen, das heißt, Leute, die keine pädagogische Vorbildung, kein Studium haben, das etwa den Anfangsunterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen betrifft, dass die auf keinen Fall in den ersten beiden Klassen eingesetzt werden.
Wir wissen, dass das wirklich die Schaltstelle ist, an der sich für viele Kinder entscheidet, ob sie in der Schule weiter erfolgreich lernen können. Das ist ein großes Problem, wo wir uns auch überlegen, ob man über ein Fernstudienlehrgang etwa diese Kolleginnen und Kollegen, die jetzt von null auf 100 in die Schule hineinkommen, nebenher qualifizieren kann. Man hat ja auch eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die sich jetzt darauf einlassen, dass sie dann auf Dauer in dieser Schule bleiben können.

Entlastung der Lehrer

Welty: Was kann denn die Grundschule leisten, um zu verhindern, dass Herkunft und sozialer Status der Eltern darüber entscheidet, was man erreichen kann in Deutschland an Bildungsniveau?
Brügelmann: Das kann die Schule alleine ganz gewiss nicht. Wir wissen ja zum Beispiel, dass sich die Stadtteile in den letzten Jahrzehnten sehr auseinanderentwickelt haben. Das heißt, dass in den Schulen dann nebeneinander Kinder sitzen, die aus ähnlichen sozialen Milieus kommen. Das bedeutet, dass die Mischung, die eigentlich die Grundidee der Grundschule war und die zum einen natürlich für die Entwicklung der demokratischen Haltung und der Fähigkeit, mit Unterschieden zusammenzuleben, wichtig ist, aber die andererseits auch inhaltliche Anregungen gerade für die Kinder beinhaltet hat, die von zu Hause nicht so viel mitbekommen haben.
Eine Lehrerin steht mit drei Schülern zusammen an der Tafel und trägt mit Kreide die Lösungen ein.
Mit dem Förderunterricht an der Grundschule, wie hier an einer Hagener Grundschule, und dem Schulkindergarten (als Vorschule) wurden 1986 viele Kinder von Immigranten für einen guten Schulstart unterstützt. © dpa/ Klauss Rose
Das ist eine Aufgabe, die die Grundschule alleine nicht lösen kann, sondern das geht los mit der Familienpolitik, dass man sich kümmert um die Mütter vor Beginn der Kindergärten und Schulzeit, dass sie ihren Kindern über Spiele, über sprachliche Förderung helfen können. Das betrifft aber natürlich auch die kulturellen Angebote, die in solchen Stadtteilen wichtig sind, wo Eltern nicht selbstverständlich mit den Kindern mal ins Museum, ins Konzert gehen.
Man muss im Grunde einerseits dafür sorgen, dass in den Schulen, wo sich diese Anforderungen als besonders schwierig erweisen, Lehrerinnen und Lehrer entlastet werden, weniger Stunden unterrichten müssen, damit sie die Nebenaufgaben erfüllen können, zu denen etwa Elternarbeit gehört. Aber auf der anderen Seite muss auch Sozialpolitik, Familienpolitik und vor allem Stadtplanung dafür sorgen, dass die Gesellschaft sich nicht so auseinanderentwickelt, dass dann auch die Schule gespalten ist.

Chancen für alle

Welty: Wäre es nicht ein Schritt, überhaupt erst mal einzuräumen, dass Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem so nicht existiert?
Brügelmann: Das ist ja seit den 60er-Jahren durch Studien immer wieder festgestellt worden, und das haben ja dann auch die Diskussionen nach der PISA-Studie 2001 immer wieder gezeigt …
Welty: Aber Herr Brügelmann, Entschuldigung, wenn ich Sie da unterbreche, wenn Sie sagen, seit den 60er-Jahren und auch seit PISA, das ist auch schon etwas her, was passiert denn?
Brügelmann: Ja, es ist sehr langsam, was an bildungspolitischen Maßnahmen da greift. Einzelne Bundesländer versuchen schon seit einigen Jahren, durch zusätzliche Mittel, die sie in solche Schulen hineingeben, die besondere Anforderungen zu erfüllen haben, das ein Stück weit aufzufangen.
Aber sie haben völlig recht, es ist vielen Menschen in diesem Land nicht klar, dass es bei der Schule nicht nur darum geht, dass ihr eigenes Kind möglichst gut durchkommt und Erfolg hat, sondern dass alle Kinder diese Chancen haben. Denn nachher profitiert dann auch die ganze Gesellschaft davon, wenn es nicht eine Gruppe von Abgehängten gibt, die entsprechend dann in Kriminalität oder was weiß ich abdriften.
Bad Homburg: Schüler einer 3. Klasse melden sich im Unterricht.
An Grundschulen in Hessen wird die Einführung eines Grundwortschatzes getestet. Das Ministerium will eine einheitliche Grundlage und Orientierungshilfe für Lehrkräfte, Eltern und Schülern bei der Vermittlung von Rechtschreibkompetenz in der Zukunft.© dpa/ Andreas Arnold
Welty: CDU-Politiker Carsten Linnemann hat letztens eine hitzige Debatte angestoßen, da ging es um die Grundschulfähigkeit von Kindern mit Defiziten im Deutschen. Inwieweit müssen Förderstrukturen vor der Grundschule tatsächlich noch mal überdacht werden?
Brügelmann: Da haben Sie völlig recht, das ist ein ganz zentraler Punkt, denn die Sprachentwicklung von Kindern durchläuft ja in dem Alter von zwei bis sechs Jahren ganz zentrale Phasen. Da ist es wichtig, dass wir auch die Kindergärten entsprechend unterstützen. Das betrifft zum einen die Ausbildung der Pädagoginnen, die dort arbeiten, dass sie lernen, Sprache wird nicht erworben, indem man sozusagen ein Vokabeltraining macht, sondern indem man im Alltag, wenn man mit den Kindern umgeht, durch bestimmte Formen ihnen hilft, ihre Sprache weiterzuentwickeln.
Natürlich stellt sich auch die Frage, ob wir so etwas brauchen wie eine Kindergartenpflicht, damit gerade diejenigen Kinder, die von ihren Eltern nicht angemeldet werden, aber vielleicht besonders darauf angewiesen sind, zusätzliche Förderung zu bekommen, damit die dann entsprechend auch im Kindergarten aufgenommen sind.

Empfehlungen für Eltern

Welty: Jetzt haben Sie und ich viel geredet über die Perspektiven für die nächsten Jahre, über die großen Linien. Das hilft Eltern jetzt kurz nach der Einschulung ihrer Kinder womöglich sehr wenig. Was empfehlen Sie diesen Eltern für die nächsten Monate?
Brügelmann: Das Problem sind ja nicht die Eltern, die sich um ihre Kinder kümmern, indem sie mit ihnen alles mögliche an Aktivitäten im Alltag machen, was sie fördert, sondern wir müssen den Eltern helfen, die nicht diese entsprechenden Erfahrungen und das Vorwissen haben. Da kann ich Ihnen nur empfehlen, dass diese Eltern sich entsprechend an den Kindergärten, an die Schule wenden und um Rat bitten, wie sie mit ihren Kindern neben der Schule oder auch neben dem Kindergarten sinnvolle Aktivitäten machen können.
Ich denke, die Mittelschichtseltern, die jetzt zum Beispiel auch hier zuhören, die brauchen nicht etwas zusätzlich zu machen, allenfalls öffnet sich die Schere dann noch weiter, wenn die noch mehr machen.
Welty: Was wünschen Sie sich als erste politische Maßnahme?
Brügelmann: Ganz dringlich die Konzentration von allen Ressourcen auf die Schulen, die unter schwierigen Bedingungen arbeiten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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