10.000 Kilometer der Sonne entgegen

Von Uli Hufen · 18.12.2010
Das Grauen kennt viele Formen. Für amerikanische Touristen in Nordkalifornien kann es zum Beispiel die Gestalt eines großen, rotbraun schimmernden Blockhauses annehmen. 16 Meter lang, acht Meter breit. Sechs Zimmer, ein Vestibül. 100 Kilometer nördlich von San Francisco steht dieses Haus, auf einem Plateau über dem pazifischen Ozean.
An der ganzen amerikanischen Westküste, von San Francisco bis nach Alaska, gibt es kein älteres Haus als dieses, das nach seinem letzten und berühmtesten Bewohner bis heute Rotschew-Haus heißt. Und Alexander Gawrilowitsch Rotschew war, wie der Name klar macht, Russe.

Nach Amerika aber kam Rotschew nicht als Emigrant, wie nach ihm so viele, sondern als Entdecker und Administrator. Rotschew war von 1838 bis 1841 Direktor der russischen Niederlassung Fort Ross. Fort Ross aber markierte nichts anderes als den geografischen Endpunkt der Eroberung Sibiriens und Alaskas durch russische Jäger, Kosaken, Fallensteller, Soldaten, Seeleute und Wissenschaftler. Ein epochaler Eroberungs- und Entdeckungszug.

Begonnen hatte alles im Jahre 1581, als der Kosakenataman Jermak Timofejew im Auftrag der Händlerdynastie Stroganow loszog, um das Khanat von Sibir zu erobern. Für eine Handvoll Rubel. Dass ihr kleines militärisches Abenteuer welthistorische Bedeutung erlangen würde - davon ahnten Jermak und seine Kosaken nichts. Für sie war Sibirien ein kleines Khanat hinter dem Ural, spätes Überbleibsel der Großen mongolischen Horde.

70 Jahre später standen russische Jäger und Soldaten am Ufer des Pazifischen Ozeans. Was hinter ihnen lag war klar: die unermessliche Weite Sibiriens, Tausende Kilometer Wald, riesige Flüsse, enorme Strapazen, Blut und viele Tote. Vor ihnen lag das Unbekannte: Am Ufer des Ozeans fragten die Russen ihre Eingeborenen Führer, was da vor ihnen läge. Die Antwort war: "Penzhin" - das "Große Wasser". Hinter dem "Großen Wasser" aber lag das mythische "Große Land" - Alaska.

Bis es soweit war, sollten fast 100 Jahre vergehen. 1741 erreicht Vitus Bering im Rahmen der Großen Nordischen Expedition Alaska, 1785 wird die erste permanente russische Niederlassung in Alaska gegründet, 1812 errichtet die Russisch Amerikanische Kompanie Fort Ross. In Petersburg werden Träume von einem pazifischen Imperium geträumt: Hawaii und Alaska, Kalifornien und Kamtschatka, sogar Melanesien könnte zum Russischen Imperium gehören.

Doch das Klima, die Entfernungen und die europäischen Konkurrenten im Nordatlantik machen diesen Plänen den Garaus. Die Kosten sind zu hoch, der Nutzen zu gering und ohnehin hat Russland in Europa alle Hände voll zu tun. Als 1841 Fort Ross für 30.000 Piaster an den schweizerisch-kalifornischen Farmer John Sutter verkauft, ist die Geschichte von Russisch Amerika noch nicht zu Ende. Doch die Zeichen der Zeit sind deutlich: 1844 überqueren die ersten amerikanischen Siedler die Sierra Nevada. 1848 wird bei Sutters Mühle Gold gefunden, der kalifornische Goldrausch beginnt. Am 9. September 1850 wird aus einer spanisch-mexikanischen Provinz der 31. Staat der USA: Kalifornien. Dass aber alles auch ganz anders hätte kommen können, daran erinnert die Touristen in Nordkalifornien heute Alexander Rotchevs rotbraunes Blockhaus.

Internetseiten:

Fort Ross: State Historic Park

Meeting of Frontiers ist eine zweisprachige digitale Multimediabibliothek (Russisch-Englisch), die zwei Geschichten erzählt:
* die parallele Erforschung und Besiedelung des amerikanischen Westens und von Sibirien
* das Aufeinandertreffen von Russen und Amerikanern in Alaska und im Nord-West Pazifik

Gesprächspartner:

Prof. Dittmar Dahlmann, seit 1996 Professor für slawische Geschichte an der Universität Bonn.
"Dieser Expansionsprozess, der dann relativ rasch ja abläuft, läuft entlang an Flusssystemen, daran orientieren sich die vordringenden Russen, und an diesen Flusssystemen zumeist, teilweise aber auch in den Tundra und Taigagebieten lebten eben einheimische Stämme, die indigene Bevölkerung Sibiriens. Keinesfalls einheitlich von ihrer Zahl her: teilweise sehr kleine Ethnien, wie man das heute nennt, also Völker: Es waren zum Teil finno-ugrische Stämme, die eigentlich Ureinwohner dieser Gegenden, die wir ja sogar noch aus dem Petersburger Raum kennen, also Komi und Wogulen, wie sie damals hießen. Daneben eben Tungusen und Jakuten und oben ganz im Norden so genannte paleo-asiatische oder paleo-sibirische Stämme, also nach der Sprachzugehörigkeit klassifiziert - wie die Tschuktschen, die Korjaken, die Itelmenen auf Kamtschatka, die die Russen Kamtschadalen nennen."

"Der Expansionsprozess der Russen ist durchaus auch in ziemlich gewalttätiger Form vor sich gegangen. Die Menschen, die den Expansionsprozess vorangetrieben haben, die Kosaken oder die Händler waren im Wesentlichen am schnellen Gewinnmachen, an der schnellen Beute interessiert. Die Form der russischen Verwaltung in diesem riesigen Territorium war sehr gering, es gab einige Zentren wie Irkutsk, wie Jakutsk, wie Jennisejsk, aber diese Orte lagen teilweise ja doch sehr weit von den entsprechenden Operationsgebieten entfernt und der Prozess ist durchaus äußerst blutig gewesen. Vielleicht nicht in dem Maße, wie man das aus den spanischen Eroberungen in Mittel- und Südamerika kennt, aber durchaus auch vergleichbar mit dem Vordringen der Weißen in den USA und in Kanada. Ein blutiger Prozess."

"Das Pelzgeschäft und späterhin das Geschäft mit Fellen und allem was aus diesen Meerestieren hervorkam, war für das russische Reich im ganzen 18. und auch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts von ganz entscheidender Bedeutung. Ein Teil der Möglichkeiten, auch der materiellen Möglichkeiten des Russischen Reiches stammte eben aus diesen Erträgen, die man aus Sibirien bekam. (...) Man muss das ganz klar und deutlich sagen: ohne Sibirien wäre Russland wohl kaum der Aufstieg zu einer der wichtigen Großmächte in der Mitte des 18. Jahrhunderts, seit Peters I. Zeiten bis ins 20. Jahrhundert gelungen."

"Also es gibt am Ende des 18., am Anfang des 19. Jahrhunderts solche Ideen, die auch bis ins St. Petersburger Außenministerium vordringen, ja nun ein pazifisches Kolonialreich zu schaffen, das also Hawaii umfassen soll als auch sich bis nach Melanesien und Polynesien erstrecken soll. Die entsprechenden visionären Denker versuchen in immer neuen Denkschriften, das dem Petersburger Außenministerium schmackhaft zu machen und darauf hinzuweisen, welche Möglichkeiten man damit für das Imperium gewinnen würde. Das hat etwas Faszinierendes an sich, wenn man sich heute vorstellt etwa, dass Hawaii ein Teil des Russischen Reiches ist, also ein Teil der Russischen Föderation." Dittmar Dahlmann
Dittmar Dahlmann
Sibirien
Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 438 S. m. 5 Ktn., 20 Bildtaf. 24 cm 885g , in deutscher Sprache.
2009 Schöningh
Einer der besten Kenner der Geschichte Sibiriens erzählt in seinem fesselnden neuen Buch die dramatische Geschichte von über 400 Jahren. Sie beginnt mit den Kosaken Jermaks, die im Dienste russischer Kaufleute als Speerspitze der Eroberung in die unbekanntenWeiten jenseits des Urals vorstießen, und setzt sich über die Kolonisierung, Erforschung und Erschließung des vielgestaltigen Landes fort bis zur Gegenwart, in der Sibirien immer größeres Interesse auf sich zieht.Sibirien. Das Wort ruft zahlreiche Assoziationen hervor: unberührte , wilde Natur und ungeheure Weite - achteinhalb Tage braucht die Transsibirische Eisenbahn für die 9.298 Kilometer von Moskau bis Wladiwostok. Gleichzeitig verbinden sich mit Sibirien bedrückende Gedanken an Verbannung, Straflager und Zwangsarbeit - nicht ohne Grund ist Sibirien als "das größte Gefängnis" der Welt bezeichnet worden.Riesig ist auch der Reichtum Sibiriens an Bodenschätzen, vor allem an Erdöl, Erdgas, Steinkohle, Gold und Diamanten. Bevor sie Sibirien zur Schatzkammer des Russischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten machten, erwies sich ein anderer Schatz der Natur als Magnet von höchster Anziehungskraft: der Reichtum an Pelztieren. Er war einer der mächtigsten Anreize für die Eroberung Sibiriens durch die Russen. Sie begann im späten 16. Jahrhundert in der Regierungszeit Ivans IV.Seit dem ersten Vordringen gehörten der zivilisatorische Anspruch, die behauptete Überlegenheit der Russen zu den Gründen für die Rechtfertigung der Eroberung. Sibirien galt schon bald nicht mehr als Kolonie, sondern als genuiner Bestandteil des Reiches. Zu den Opfern der Kolonisierung gehörten vor allem die Ureinwohner Sibiriens, die zahlenmäßig zu schwach waren und aus zu vielen unterschiedlichen Völkerschaften bestanden, um sich erfolgreich zur Wehr setzen zu können.Dieses Spannungsverhältnis zwischen russischer Eroberung und den Lebensbedingungen und Überlebensstrategien der indigenen Bevölkerung ist ein zentrales Thema des Buches. Ein weiteres großes Thema ist die industrielle Erschließung und Ausbeutung des Landes, die in der sowjetischen Zeit ohne jede Rücksicht auf Mensch und Natur bis zum Extrem forciert wurde, ein Raubbau, der in seiner bis heute fortwirkenden Gigantomanie eine beeindruckende und reiche natürliche Umwelt an den Rand der völligen Zerstörung getrieben hat. Das bedrohte Naturwunder des Baikalsees ist nur ein Beispiel dafür.

Das sibirisch-amerikanische Tagebuch aus den Jahren 1788-1791
von Merck, Carl H.;
Herausgeber: Dahlmann, Dittmar, Friesen, Anna u. Ordubadi, Diana .
2009 Wallstein
Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bemühte sich das Russische Reich um die Erschließung neuer Territorien im asiatischen und pazifischen Raum. Aus Mangel an eigenem wissenschaftlichem Nachwuchs beauftragte der russische Staat überwiegend westeuropäische Wissenschaftler mit der Erforschung unbekannter Regionen.
1786 schloss sich der deutsche Arzt Carl Heinrich Merck (1761-1799) einer von der russischen Zarin Katharina II. entsandten geheimen astronomischen und geografischen Expedition zur Erkundung Ostsibiriens und Alaskas an. Seine geographischen, botanischen, zoologischen und ethnologischen Beobachtungen hielt Merck in einem Tagebuch fest, das lange Zeit der Öffentlichkeit vorenthalten blieb. Dabei bieten seine Aufzeichnungen auch heute noch eine erstrangige historische Quelle für die kulturwissenschaftliche und ethnologische Forschung zu den indigenen Kulturen der Itelmenen, Cuk cen, Alëuten und Yupik.
Mit einem umfassenden Kommentar wird das sibirisch-amerikanische Tagebuch von C. H. Merck erstmals in deutscher Sprache ediert. Damit wird ein Universalgelehrter gewürdigt, der es verdient, neben seinen berühmteren Zeitgenossen wie Johann Georg Gmelin, Peter Simon Pallas und Georg Wilhelm Steller zu stehen.

Literatur:

* W. Bruce Lincoln: Die Eroberung Sibiriens, München 1996
* S. A. Gladkov: Geschichte Sibiriens, Regensburg 2003
* Die Große Nordische Expedition von 1733 bis 1743. Aus Berichten der Forschungsreisenden Johann Georg Gmelin und Georg Wilhelm Steller. München 1990
* Basil Dmytryshyn: Russia's Conquest of Siberia 1558-1700: A Documentary Record Vol 1
* Basil Dmytryshyn: Russian Penetration of the North Pacific Ocean, 1700-1797: A Documentary Record: Vol 2
* Basil Dmytryshyn: Russian American Colonies, 1798-1867: A Documentary Record, Vol 3

Die Gesellschaft für Historische Migrationsforschung trägt der Entwicklung Rechnung, dass die historische Migrationsforschung innerhalb der Geschichte, aber auch andere Disziplinen, zunehmend an Bedeutung gewinnt.