Zuweilen Dompteurin

05.12.2008
Sie war Ehefrau, Sekretärin und treue Chronistin des Schriftstellers Arno Schmidt: Alice Schmidt erweist sich in ihrem "Tagebuch aus dem Jahr 1955" als optimistische, stets ermunternde Gefährtin ihres Mannes, der an den zahlreichen Hürden, die sich ihm in den Weg stellten, schneller verzweifeln wollte als sie.
Alice Schmidt war mit einem der Großen der deutschen Nachkriegsliteratur verheiratet: Arno Schmidt. Niemand kam dem notorisch menschenscheuen Schriftsteller so nahe, wie die gelernte Sekretärin, die ihrem Mann tatsächlich als solche diente. Zugleich aber war sie auch wichtiges Korrektiv, ja, Mitunter Dompteurin, die mit fester Hand das Gehirntier Schmidt durch sehr schwere Zeiten führte.

Wenn nun mit 1955 ein weiterer Band - nach 1954 im vergangenen Jahr - von Alice Schmidts Tagebuch erscheint, dann ist die Arno-Gemeinde rasend gespannt, welche Geheimnisse ans Tageslicht kommen. Alle anderen, die nur gelegentlich in ein Schmidt Buch hineinschauen, sollten eine gewisse Tierliebe mitbringen.

Denn: Katzen, Katzen und immer wieder Katzen. Wer Alice Schmidts Diarium aus dem Jahre 1955 lesen will, der muss sich auf unzählige Katzen, ihre Namen, Studien ihres Verhaltens, vor allem aber auch Dokumente einer nahezu irrsinnigen Liebe der Autorin zu diesen - und noch vielen anderen Tieren in und um Kastel/Saar - gefasst machen.

Das war bereits im Tagebuch des Jahres '54 so, doch 1955 nimmt Alicens Tierliebe pathologische Züge an. Vielleicht lag’s am Stress? ´55 ist ein enorm schwieriges und zugleich auch erfolgreiches Jahr für das Paar. Die finanzielle Situation ist im Jahre neun der feien Schriftstellerexistenz zunächst nach wie vor prekär. Um die hundert DM stehen beiden im Monat zur Verfügung, was unter anderem bedeutet, das eine der beiden armseligen Stuben, die das Flüchtlingsduo bewohnt, im Winter ungeheizt bleibt.

Auf Anraten des Schriftstellerkollegen und frühen Mentors Ernst Kreuder, dessen eigene Karriere Mitte der 50er Jahre künstlerisch und finanziell stagniert, der sich aber mit diversen Brotarbeiten über Wasser zu halten weiß, stürzt sich Arno Schmidt in die Produktion von Zeitungsartikeln, die sich tatsächlich recht erfolgreich verkaufen und dafür sorgen, dass hin und wieder eine Dose Rindfleisch zu Mittag geöffnet werden kann.

In der Produktion passiert ebenfalls Bedeutendes: Arno Schmidts wichtiges Werk "Das Steinerne Herz" steht kurz vor der Vollendung und die Dinge könnten sich nunmehr zum Guten wenden, wenn da nicht eine Anzeige wegen Gotteslästerung und Pornografie wäre. Jemand fand in Schmidts Kurzroman "Seelandschaft mit Pocahontas" entsprechende "Stellen", die zur Anzeige führten. Schmidt griff tatsächlich in seinen Werken regelmäßig Religion und Klerus an.

Von heute aus gelesen, wirken Worte wie "Die Bibel: iss für mich n unordentliches Buch mit 50.000 Textvarianten. Alt und buntscheckig genug..." heiter bis harmlos. In der "Seelandschaft mit Pocahontas" findet sich auch keine explizit pornografische "Stelle"; damals reichte es offenbar aus, wenn die Protagonisten hin und wieder ins schützende Schilf des sommerlichen Dümmers ruderten, um die Fantasie eines katholischen Buchhändlers derart zu entzünden, dass der zur Polizei ging.

Arno Schmidt gerät in Panik, sieht sich bereits im Gefängnis, wirkt verzweifelt und wieder muss Alice Bücher und Manuskripte verstecken, weil ihr Mann, in einem der zahllosen hier dokumentierten cholerischen Ausbrüche, droht, "alles zu verbrennen!". Für Minuten wird die Emigration "nach der Ostzone" erwogen. Aber auch dort wartet, so glauben beide, auf einen wie Schmidt das Zuchthaus.

Schlimm. Aber fast schlimmer ist das Schicksal diverser Katzen, ihrer Nachkommen, der vielen "Piepmätzer" die durch den Winter zu bringen, sowie all der Schnecken und Regenwürmer, die im Sommer von der Straße auf die rettenden Wiese zu tragen sind. Jawohl, das Gehirntier Arno Schmidt, der Schreckensmann der deutschen Nachkriegsliteratur, rettet Schnecken und Würmer vor dem sicheren Tod durch unvorsichtige Kraftfahrer. Sollte dennoch eines der Kriechtiere zu Tode kommen, wir gemeinschaftlich der "Leviathan", Gott in der Privatfolklore der Schmidts, verflucht.

Gejammert und geflucht wird ohnehin viel im Hause Schmidt. Alice hasst die Hausarbeit und muss erkennen, dass es mit eigenen künstlerischen Versuchen nichts werden wird. Einen Kurzgeschichtenversuch kommentiert Arno vernichtend als verlogene Bauernprosa, die bei den Nazis Erfolg hätte haben können. Dann bleibt es eben beim Job als Sekretärin des Genies, dem sie, auch das schreibt Alice auf, das "Köpfel waschen" muss.

Die politische Lage ist schwierig, die Kollegen, mit Ausnahme von Hans Henny Jahnn, sind allesamt untalentiert und die verdammten Bauernburschen nehmen Schwalbennester aus. Letzteres wird immerhin bestraft, zufrieden notiert Alice:

"Radio Frankfurt meldet, dass ein Junge beim Ausnehmen eines Vogelnestes vom Baum gestürzt und an den Verletzungen gestorben ist. Sehr, sehr gut!"

Vor der bäuerlichen Dumpfheit, vor allem aber der Verfolgung wegen der Pocahontas Anzeige, emigriert das Paar schließlich nach Darmstadt. Und wenn zuvor das Treiben der Katzenrudel en detail aufgeschrieben wurde, so blicken wir nun in die von Alice präzise dokumentierte Künstlerpuppenstube Darmstadt, in der nach Themen und Visionen gesucht wird und doch meist nur Ratlosigkeit herrscht.

Arno Schmidt wird zutiefst bewundert und ist doch auch an diesem Ort fremd und falsch. Das, wie er es immer wieder nennt, "Geschwätz" der Kollegen, der Zwang zu gesellschaftlichen Kontakten, sind ihm zuwider. Erlösung wird 1958 erst der Umzug nach Bargfeld bringen. Hier in der einsamen niedersächsischen Heide ist er, zunächst - später spüren ihn die Verehrer auch dort auf - sicher vor ungebetenen Besuchern.

Alice Schmidt schreibt ein erzählendes Tagebuch. Notizen und Taschenkalendereinträge verarbeitete sie, teilweise erst viel später, zu einer Geschichte des jeweiligen Tages. Dabei entsteht einerseits die Geschichte des Schriftsteller-Ortes, entsteht aber vor allem auch die Biografie des Arno Schmidt, der seine Frau verpflichtet hatte, Tagebuch zu führen, wohl wissend, dass diese teilweise intimen Einträge einst öffentlich werden könnten.

Dass offenbar so gut wie nichts vom Meister korrigiert oder gar gestrichen wurde, überrascht. Und ist natürlich ein absoluter Glücksfall, der dieses Tagebuch denn auch für den gelegentlichen Arno Schmidt Leser interessant werden lässt.

Rezensiert von Andreas Müller

Alice Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1955
Herausgegeben von Susanne Fischer
Suhrkamp/Frankfurt a. M. 2008
373 Seiten, 38,00 Euro