Zur Frankfurter Buchmesse

Das Buch ist tot! Es lebe der Quellcode!

Ein Mann schlägt die Werbetrommel.
Die Träume der Schrift sind in die Welt der Programmierung hinüber gewandert, meint unser Autor Martin Burckhardt. © imago / Ikon Images
Von Martin Burckhardt · 11.10.2017
Selbstbeschwichtigung statt Selbsterkenntnis - auf der Frankfurter Buchmesse behauptet man wie eh und je, das Buch sei die wichtigste geistige Nahrungsquelle der Zeit. Martin Burckhardt meint jedoch: Der Programmcode hat die Buchschrift längst abgelöst.
Buchmessenzeit: Welkende Blätter, kurzsichtige Dichter und – wie charmant! – die reizende Debütantin, die das ultimative Buch zum Reizdarm verfasst hat.
Oder sollte ich mich im Jahr geirrt haben? Ganz egal. Denn wie jedes Jahr wird man sich über das druckfrische Buch unterm Weihnachtsbaum auslassen: Wie gut es riecht und wie schön es ist, dass es in unserer kalten, kalten Welt was zum Anfassen gibt.
Trotzdem: Irgendwas ist passiert! Als hätte das Buch sein Gewicht und seine Bedeutung verloren. Oder weswegen sonst muss es immerfort auf etwas anderes verweisen: die Serie, die Talkshow, den viralen Social-Media-Kanal?

Weltbilder kommen aus dem Smartphone

Um nicht missverstanden zu werden: Der dies sagt, schreibt selbst altmodische Bücher, die noch immer der Magie der Schrift huldigen. Nur dass mich die eigene Schriftgläubigkeit an der Bedeutung des Buches hat zweifeln lassen.
Waren es zu Anfang Telegrafie, Radio, Film und Fernsehen, so ist der gemeine Zeitgenosse nicht mehr auf die Lettern des Alphabets angewiesen, um sich ein Bild von der Welt zu machen. Mit seinem Smartphone bewaffnet, kann er die Welt sofort interaktiv verändern. Und gefällt ihm ein Element nicht, steht es ihm frei, es mit einem Wisch-und-Weg wie den Tinder-Kontakt aus seinem Aufmerksamkeitsradius zu bannen.

Im Meer der Zeichen sind Buchstaben nicht mehr exklusiv

Mag diese Geste die Autorenallmachtträume befeuern, vergisst man leicht, dass ihr Preis darin besteht, dass wir in einem Meer aus Zeichen ertrinken – und dass im Informationsoverkill die alphanumerischen Lettern (neben Geo-Koordinaten, Bildern und Icons) nur eine höchst bescheidene Untermenge darstellen.
Und unterdessen hat sich auch noch die Art der Lektüre gewandelt. An die Stelle der mächtigen Brocken sind leichtverdauliche Bücher getreten, deren schwindende Komplexität die Aufmerksamkeitsspanne des Lesers reduziert. Wie hat mein erster Lektor gesagt? – "Du hast eine Saison, dann ist das Buch tot!"
Goldene Zeiten. Denn heute sind es eher vier Wochen.

Nur beim Programmieren gehorcht die Welt der Schrift

Läuft das hier etwa auf kulturkritisches Lamento hinaus?
Ganz und gar nicht. Denn mögen die Bücher an Gewicht eingebüßt haben, sind die Träume der Schrift in die Welt der Programmierung hinüber gewandert. Hier wird tatsächlich noch über jede einzelne Zeile gestritten, werden Stil- und Nachhaltigkeitsfragen und die Problematik der Autorschaft diskutiert. Vor allem aber löst sich hier ein alter Literatentraum ein: Erstmals nämlich gehorcht die Welt den Gesetzen der Schrift.
Vor dem Prospekt dieses wahr gewordenen Traums erstaunt die Geistesträgheit, die sich in der Welt des Buches breitgemacht hat. So trifft man einen Freund, einen Verleger, der bei einem Mittagessen seufzt, dass Seinesgleichen es nurmehr mit den Abgehängten zu tun bekommt – Verlagsjobs ziehen längst nicht mehr die Aufgewecktesten an.
Nun wäre die Verzagtheit der literarischen Klasse nicht von Belang, träfe sie nicht ins Herz einer Kultur, die ihre Eliten stets nach Schreib- und Lesevermögen auserwählt hat.

Nicht dem Buch sollte man die Messe lesen, sondern dem Code

Anstatt dem Buch eine weitere Messe zu lesen, wäre es höchste Zeit, sich mit der ganzen Schrift zu beschäftigen. Hat nicht unsere Kanzlerin vor nicht allzu langer Zeit noch davon geredet, dass das Internet Neuland für sie sei? Und wenn dem so ist: Wie verhält es sich wohl mit dem Code, der unserer vielbeschworenen Digitalisierung zugrunde liegt?
Schwamm drüber, lieber Leser, diese Pein bleibt Ihnen erspart. Denn wie in den Jahren zuvor werden die Bücher, schwarz auf weiß, die Gespenster der Vergangenheit wiederaufleben lassen: Vampire, Werwölfe oder was immer unser mediales Heimatmuseum an Schurken vorrätig hält.
Aber war nicht genau diese Schizophrenie die Geburtsstunde des ersten modernen Romans? Don Quixotte, der enthusiasmiert von den Ritterromanen des Mittelalters, gegen die Windmühlen der Neuzeit ins Feld zieht?

Martin Burckhardt, geboren 1957, lebt als Autor und Kulturtheoretiker in Berlin. Er verfasste diverse Bücher zur Genealogie der Maschine. Zuletzt erschienen der Roman "Score" (Knaus, 2015) sowie "Alles und Nichts. Ein Pandämonium digitaler Weltvernichtung" (gem. mit Dirk Höfer, Matthes & Seitz 2015). Ende dieses Jahres erscheint "Die Philosophie der Maschine" (Matthes & Seitz).

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