Zum Tag des Grundgesetzes

Wir brauchen eine neue Aufklärung!

Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes . Die Wuerde des Menschen ist unantastbar . Kunstwerk Grundgesetz 49 des israelische Kuenstlers Dani Karavan an den Buerogebaeuden des Deutschen Bundestags . Berlin , Deutschland .
"Die Würde des Menschen ist unantastbar", ein Kunstwerk von Dani Karavan © imago stock&people/Thomas Koehler
Von Christian Schüle · 23.05.2018
Der 23. Mai ist der Tag des Grundgesetzes. Ein guter Anlass, über demokratische Errungenschaften nachzudenken. Der Philosoph und Publizist Christian Schüle nimmt die politische Großwetterlage in Augenschein.
Es ist eine verhängnisvolle Rückkehr der Wahrheit – die nicht auf Vernunft und Verständigung basiert, sondern auf Aufregung und Empörung.
Der politische Islam zum Beispiel verkündet sein Gesetz als absolute Wahrheit Gottes. Die Linke zum Beispiel feiert ihren missbrauchten und missverstandenen Marx als ewiggültigen Verkünder der antikapitalistischen Wahrheit. Die AfD zum Beispiel konstruiert sich ihr Wahrheitsmonopol gegen die vermeintliche Lügenpresse zurecht, die man ja nur Lügenpresse nennen kann, wenn man sich im Besitz der Wahrheit wähnt. Und mit dem öffentlich aufgehängten Kreuz zielt der bayerische Ministerpräsident Söder auf den Wahrheitsanspruch des Christentums und vergisst oder ignoriert, dass die Prägung Deutschlands durch das christliche Abendland eben gerade in der Prägung durch den Kampf von Aufklärung und Wissenschaft gegen dieses Christentum bestand.

Liberales Denken abgewürgt

Allerorten wachsen Bewegungen, die sich durch Zuruf und Zu-Stimmung legitimieren, und immer mehr Populisten reklamieren erfolgreich den Alleinvertretungsanspruch des "wahren" Volkes gegen die repräsentative Demokratie, und das auch in Europa.
Das große Projekt des Westens und der Aufklärung, also das liberale, die Gegensätze versöhnende Denken, ist am Ende, weil es von so vielen Seiten fahrlässig abgewürgt wird. Unser auf Wissen, Wissenschaft und Objektivität gegründetes Weltbild hat keine Deutungshoheit und anscheinend keine Attraktivität mehr. Es geht jetzt wieder um "Wahrheit".
Formuliert die liberale Demokratie den Anspruch auf universelle, für jeden Einzelnen gleichermaßen gültige Rechts-Grundsätze, basiert Wahrheit auf einer Offenbarung, die kein Recht kennt, sondern immer Recht hat.

Rückfall in Wahrheitsoffenbarungen

Eine offenbarte oder absolute Wahrheit lässt keine Gegensätze zu, muss ihre Herkunft nicht erklären, ihre Berechtigung nicht rechtfertigen. Die Guten hier, die Bösen da – als ob es so einfach wäre.
Dass nichts ohne sein Gegenteil wahr und denkbar ist – vergessen. Dass jede Aussage relativ ist – verdrängt. Dass Freiheit immer auch Freiheit des Andersdenkenden heißt – vernachlässigt, weil mühsam.
Mit dem Rückfall in Wahrheitsoffenbarungen kehren auch Moral und Ideologie zurück. Als Kampftreiber fordern sie das Bekenntnis zu "höheren" Zugehörigkeiten und konstruieren konfessionelle und kulturelle Identitäten: Gott, Klasse, Ethnie, Volk. Der Glaube ist dann wichtiger als Wissen, weil Wissen zur Fiktion erklärt wird.
Solcherart Emotionalisierung des Politischen durch aufgerüstete Moral ist falsch, fatal und fahrlässig, weil Moral sich erst gar nicht die Mühe macht, nach objektiv nachvollziehbaren Kriterien, also nach bestem Wissen zu fahnden, solange sie das beste Gewissen für sich beanspruchen kann.

Rückkehr von Moral und Ideologie

Von der Objektivität zur Offenbarung – das ist der große Wandel, den wir seit kurzem erleben.
Die Rückkehr von Moral und Ideologie ist ein Rückfall deswegen, weil es gerade nicht mehr um die Auflösung von "Wahrheit" geht, wie wir es aus der Postmoderne und vom Poststrukturalismus seit den 1980er-Jahren kannten, als Paradoxien in Prozesse übersetzt wurden und ein Ausgleich widerstreitender Interessen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, aber zum Vorteil für möglichst alle moderiert werden konnte.
Jetzt ist wieder die Zeit der Erlöser, der Prediger und Führer. Die Wichtigtuerei der monotheistischen Offenbarungs-Religionen Christentum, Islam und Judentum und ihrer Vertreter und Verbände im öffentlichen Raum des säkularisierten Rechtsstaats ist absurd. Wie viel Kriege und Konflikte dieser Welt basieren auf kollidierenden Wahrheitsansprüchen genau dieser drei Religionen!

Mut zur Ambivalenz

Statt Wahrheit, Moral und Ideologie brauchen wir: Rationalität. Also Präzision, Nachprüfbarkeit und Transparenz, den Respekt vor Verstand, Verhandlung und Vertrag. Rationalität besteht ja gerade in der Erkenntnis, dass es absolute Wahrheiten nicht geben kann.
Wir müssen uns dringend selbst wieder den Mut zur Ambivalenz und die Fähigkeit zu ihrer Bewältigung lehren. Wir müssen lernen, auch das Paradoxe zu denken, und das Andere zu achten.
Wir brauchen eine neue Aufklärung.

Christian Schüle, 47, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Publizist in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" (Droemer) sowie "Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben" (edition Körber-Stiftung). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Mehr zum Thema