Yuval Noah Harari: "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert"

Kleine Elite und eine Klasse der "Nutzlosen"

Cover von Yuval Noah Harari: "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert"; im Hintergrund sind Menschen vor digitalem Zahlcode zu sehen
Durch eine "Zwillingsrevolution" von Künstlicher Intelligenz und Biotechnologie werde eine Macht entstehen, so Yuval Noah Harari. © C.H. Beck / picture alliance/imageBROKER / Collage: DLF Kultur
Von Thorsten Jantschek · 18.09.2018
Vergangenheit und Zukunft lässt Historiker Yuval Noha Harari in "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" aufeinandertreffen – und landet in der Gegenwart. Die sei gekennzeichnet von radikaler Unsicherheit und steuere auf eine neue Klasse der "Nutzlosen" zu.
Keine Geschichten, bitte! Yuval Noah Harari erteilt "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert".
Es hat etwas wahrhaft Genialisches, wie groß und weitläufig der Universalhistoriker Yuval Noha Harari denkt: Tief in die Vergangenheit drang er mit seinem ersten Buch "Eine kurze Geschichte der Menschheit" ein und weit in die Zukunft blicke er mit seinem viel gepriesenen "Homo Deus". Nun wendet er sich mit "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" der Gegenwart zu, indem er Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen lässt.
Zur Vergangenheit gehören die großen Erzählungen der Menschheit, die Bindekraft religiöser Mythen oder politischer Ideologien wie Kommunismus und Faschismus. Ja sogar jene heute so wirksame Erzählung des Liberalismus ist für ihn eine, deren Gegenwart bereits vergangen scheint. "Diejenigen, die an die liberale Erzählung glauben, leben im Lichte zweier Gebote – sei schöpferisch und kämpfe für die Freiheit." Diese große Erzählung hätte die Unterstellung hervorgebracht, dass Friede und Wohlstand für alle möglich ist, wenn politische und wirtschaftliche Systeme sich immer weiter liberalisieren.

Glauben an die Kraft der Globalisierung verloren

Dies alles gehört für den Historiker nicht nur deshalb der Vergangenheit an, weil viele Menschen heute den Glauben an die Kraft der Globalisierung verloren haben (wie die Anhänger von Donald Trump oder die Brexit-Befürworter), sondern weil die Menschheit am Beginn einer Zukunft stehe, die den Kern der liberalen Erzählung – die des autonomen Subjekts mit einem freien Willen – als Fiktion entlarvt.
Durch eine "Zwillingsrevolution" von Künstlicher Intelligenz und Biotechnologie werde eine Macht entstehen, die das Innerste des Menschen, seine Gefühle und Überzeugungen "hacken", kontrollieren und formen kann. Nicht nur Entscheidungen würden durch Algorithmen besser getroffen, als ein Mensch das könne, sondern es würden Milliarden von Jobs überflüssig und die Menschheit spalte sich in eine kleine Elite und eine neue Klasse der "Nutzlosen" auf. Was wiederum gesellschaftliche und politische Probleme schaffe, von denen wir uns noch keine Vorstellung machen können. So weit, so düster.
Die Gegenwart ist also gekennzeichnet durch eine radikale Unsicherheit und verbunden mit der Aufgabe, ein neues Narrativ für die Zukunft zu erfinden. Und wie sieht das aus? Für Harari besteht dieses Narrativ im Kern aus einer säkularen Haltung, in der die Suche nach Wahrheit die eine, und das Mitgefühl für das Leiden der Anderen die andere Verpflichtung ist. Man könnte das eine "aufgeklärte Mitleidsmoral" nennen.

Komplexität von Diskursen wird kaum sichtbar

Und so reibt man sich nach hunderten von Seiten und tausenden von Beispielen aus der Geschichte verdutzt die Augen: Ausgerechnet auf der Grundlage eines berechenbaren und kontrollierbaren Gefühls sollen wir die Zukunft bewältigen? Eines Gefühls, das auch ohne Algorithmen ziemlich schwankend ist, das Menschen, denen wir nahe stehen, stärker zu Teil wird als solchen, die uns fern sind? Waren wir da nicht schon mit den Denkern der Aufklärung bis hin zu den (liberalistischen) Philosophen einer universalen Moral, wie zum Beispiel John Rawls, weiter? Waren wir!
Das Problem bei Überfliegern wie Harari ist zumeist die Flughöhe. Denn egal worüber Harari in diesem Buch schreibt – und er schreibt sehr viel über sehr Vieles: über Krieg, Religion, Freiheit, Terror, Religion, Gleichheit, Zuwanderung, Nationalismus, Bildung, Sinn, usw. – aber stets erscheinen die Positionen, die er diskutiert holzschnittartig: die wirkliche Komplexität von Diskursen und Positionen wird so kaum sichtbar.
Und das, worum es sich mit Harari zu streiten lohnt, die Fundamente seines Denkens, werden dabei immer schon vorausgesetzt, ein kruder evolutionstheoretischer Biologismus (Gefühle und Entscheidungen sind nichts anderes als ein biochemisches Anpassungsprodukt von Milliarden von Nervenzellen und basieren auf Berechnungen) gepaart mit einem technologischem Fortschrittsglauben, dem jede Urteilskraft zu erliegen scheint. Ach ja, die ist natürlich auch berechenbar.

Die Krux des menschlichen Geistes

Aber "Halt"! Da ist noch etwas, für das es keine Erklärung gibt: den menschlichen Geist. "Das Gehirn ist ein materielles Netzwerk aus Nervenzellen, Synapsen und biochemischen Stoffen. Der Geist ist ein Fluss subjektiver Erfahrungen wie Schmerz, Freude, Wut und Liebe." Aber den Geist, den kann man laut Harari nur bei sich selbst "beobachten". Wut, Liebe und Schmerz bei anderen Menschen kenne man nur aus zweiter Hand.
Dass Harari hier selbst einer großen Erzählung aufsitzt, dem erkenntnistheoretischen Cartesianismus, gegen den zumindest die Hälfte der modernen Philosophie Sturm gelaufen ist, scheint ihm selbst wohl nicht entgangen, vielleicht aber auch egal zu sein. Immerhin gibt er seinen Lesern einen wichtigen Tipp: "Wenn irgendeine Frage Ihnen besonders wichtig erscheint, bemühen Sie sich, die einschlägige wissenschaftliche Literatur zu lesen." Darin ist dem Autor jedenfalls uneingeschränkt zuzustimmen!

Yuval Noah Harari: "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert"
C.H. Beck Verlag, 2018
445 Seiten, 24,95 EUR

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