"Wir suchen und wir finden Gott"

Frère Alois im Gespräch mit Ulrike Timm · 16.08.2010
Auch fünf Jahre nach dem Tod ihres Gründers Frère Roger stößt die ökumenische Gemeinschaft Taizé auf großen Zuspruch bei tausenden jungen Menschen, sagt der neue Prior Frère Alois. Für diese Kontinuität sei man in Taizé dankbar.
Ulrike Timm: Klänge aus Taizé, Fra Alois, Nachfolger von Frère Roger und heutiger Prior von Taizé, schönen guten Tag!

Frère Alois: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Frère Alois, haben Sie heute solche Lieder schon gesungen?

Frère Alois: Ja, dreimal am Tag treffen wir uns hier in der großen Kirche mit den Jugendlichen, die eine Woche hier sind, und das ist so der Mittelpunkt von dem Tagesablauf hier.

Timm: Die Gesänge sind gläubig, sie sind Kultur und sie sind Kult. Was macht denn für Sie ihre Kraft aus?

Frère Alois: Es ist eine gemeinsame Sprache. Wir haben hier Jugendliche, die aus 60, 70 Nationen hier sind, aus den verschiedenen Kontinenten, und diese Jugendlichen suchen, wie können wir heute Wege finden, um uns gegenseitig mehr zu verstehen, auch über Kontinente hinweg. Und das gemeinsame Singen ist ein großer Beitrag dafür.

Timm: Viele Gemeinschaften, die zerbrechen ja, wenn ihr Gründer stirbt. Taizé hat der Tod von Frère Roger nichts von seiner Anziehungskraft nehmen können. Woran liegt das?

Frère Alois: Wir sind auch erstaunt darüber, dass die Besucherzahl noch zunimmt. Aber es bedeutet einfach, dass das, was Frère Roger begonnen hat, nicht auf ihn als Person zentriert war, sondern er wollte wirklich allen Jugendlichen, allen, die herkommen, deutlich sagen, dass Gott nicht einfach nur ein Wort ist, sondern jemand, der existiert und der im Leben jedes Einzelnen da ist, und wir können im Glauben einen Sinn für unser Leben entdecken.

Timm: Liegt der Kern auch in der Kargheit bei Ihnen? Es wird niemand bespaßt, es wird aber auch niemand bepredigt, das ist gemeinsames Singen und gemeinsames Beten. Macht das die Anziehungskraft aus?

Frère Alois: Vielleicht auch das Zuhören, das Aufeinander-Hören. Wir Brüder machen das ganz konkret, jeden Abend bleiben wir lange in der Kirche, um mit allen, die persönlich mit jemandem reden wollen, das zu tun. Und auch die Jugendlichen untereinander, das Aufeinander-Hören, das Über-Grenzen-hinweg-Sichverstehen ist etwas, was in unseren Gesellschaften immer notwendiger wird und immer weniger getan wird. Und das, glaube ich, spielt eine große Rolle hier.

Timm: Hat sich denn seit dem gewaltsamen Tod von Frère Roger in den vergangenen fünf Jahren doch eine Menge verändert?

Frère Alois: Ja, eines zum Beispiel, dass wir wieder, was Frère Roger früher gemacht hat, aber jetzt wieder in verstärkter Form auch Jugendtreffen auf anderen Kontinenten haben. So letztes Jahr in Nairobi und jetzt am Jahresende werden wir ein Jugendtreffen für Lateinamerika in Chile haben. Dieses Aufbrechen hin zu den anderen Kontinenten ist uns in den letzten Jahren wichtig gewesen.

Timm: Aber in Taizé selber hat sich gar nicht viel verändert. Sie haben am Wochenende Frère Roger gedacht, er hat ein ganz schlichtes Grab, ich glaube, die einzige Besonderheit, es sind immer viele frische Blumen drauf, der Ort selber ist praktisch in seinem Sinn gleich geblieben.

Frère Alois: Ja, wir sind sehr dankbar über diese Kontinuität. Wobei man auch sagen muss, dass immer eine neue Generation hierher kommt und jetzt die Hälfte der 5000 Jugendlichen, die diese Woche hier sind, hat Frère Roger oder über die Hälfte hat Frère Roger nie gesehen. Also es bleibt etwas sehr Lebendiges, dafür sind wir dankbar, und wir Brüder staunen auch darüber.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Am Telefon ist der Prior der Gemeinschaft von Taizé, Frère Alois. Alle christlichen Kirchen, die steuern bei uns ja derzeit durch schweres Wasser, die ringen um Glaubwürdigkeit – in Taizé ist es nicht wichtig, ob man katholisch, evangelisch, anglikanisch oder sonst was ist. Warum strahlt das auf die offiziellen Kirchen eigentlich so wenig aus?

Frère Alois: Wir sind sehr in Verbindung mit den verschiedenen offiziellen Kirchen und haben jetzt sehr schöne Grußbotschaften bekommen für das 70-jährige Bestehen von Taizé und den fünfjährigen Todestag von Frère Roger, Grußbotschaften von Papst Benedikt, von den orthodoxen Patriarchen aus Konstantinopel, Moskau, von dem anglikanischen Erzbischof aus Canterbury und von lutherischen und reformierten Verantwortlichen der Weltkirche. Also wir fühlen uns sehr eingebunden in die Gesamtkirche.

Timm: Aber Ihnen glauben viele Jugendliche und die offiziellen Kirchen müssen darum immer stärker ringen und wirken auch nicht sehr überzeugend, da muss doch ein anderer Grund noch dabei sein.

Frère Alois: Aber vielleicht haben wir den Vorteil, dass wir eine junge Gemeinschaft sind und nicht die Last von einer langen, langen Tradition haben und so deutlicher machen können, dass wir mit den Jugendlichen auf einem Weg sind, dass Glauben ja nicht einfach bedeutet, ich glaube oder ich glaube nicht, sondern auch als Glaubende sind wir auf einem Weg, auf einer Suche. Wir suchen und wir finden Gott, aber suchen ihn dann auch wieder. Und dieses gemeinsame Unterwegssein können wir vielleicht manchmal etwas deutlicher rüberbringen, als es die Institutionen können, obwohl die das auch natürlich tun.

Timm: Frère Alois, Sie haben so viele Besucher jedes Jahr – "reicht es", in Anführungszeichen, wenn man Stille und Gemeinschaft erfahren möchte bei Ihnen, oder muss man an Gott glauben, um in Taizé willkommen zu sein?

Frère Alois: Oh, es kommen immer auch Jugendliche her, die sagen, ich glaube nicht oder ich bin auf der Suche oder ich will mich einmal den Fragen stellen. Und das ist sehr gut, das tut denen gut, die fest im Glauben verwurzelt sind, und auch denen, die auf der Suche sind, die mit Glauben weniger anfangen können, aber sich auch einmal den Fragen wirklich stellen wollen. Und dafür ist hier ein geeigneter Ort.

Timm: Was erfahren Sie zum Beispiel von einem jungen Menschen, was ein Pfarrer im Beichtstuhl vielleicht nicht erfährt?

Frère Alois: Ich glaube, da gibt es keinen Unterschied.

Timm: Gar nicht?

Frère Alois: Ich glaube nicht.

Timm: Auch nicht aus der Atmosphäre begründet?

Frère Alois: Nein, nein, denn die persönlichen Beziehungen sind wohl das Wichtigste, dass Jugendliche ein offenes Ohr finden, dass Jugendliche jemanden finden, der ihnen zuhört, der nicht sofort sagt, was zu tun ist, sondern zunächst einmal zuhört und versucht zu verstehen. Und das versuchen wir hier und das tun unzählige Leute in den Kirchen an allen Orten.

Timm: Bei den Gottesdiensten in der Kirche von Taizé, da wird viel und gern gesungen, aber es geht auch immer wieder um Stille. Frère Alois, wie klingt für Sie Stille?

Frère Alois: Es bedeutet einfach, dass wir einmal Gott reden lassen – und er redet zu uns auch in dem Bibelwort, das wir vor der Stille hören – und dieses Wort einmal in Ruhe aufnehmen. Heute in unserer schnelllebigen Gesellschaft sind solche Zeiten der Stille wohl immer wichtiger, und es ist erstaunlich, dass am Ende der Woche Jugendliche hier oft sagen, dass die Stille das Wichtigste war. Es ist auch für mich ganz persönlich ein sehr wichtiger Augenblick, dreimal am Tag mit den Tausenden von Jugendlichen hier einfach still zu sein.

Timm: Und es ist ja erstaunlich, dass diese Stille so zuverlässig eintritt – bei 5000 Gästen in einer Art Jugendherbergszeltlager und dreimal am Tag Gottesdienst, zwischendurch Kochen, Essen, Klo putzen.

Frère Alois: Ja, ja, und es ist auch eindrucksvoll, dass die Jugendlichen dieses tiefere Bedürfnis nach Stille hier entdecken, wobei im Alltag doch oft der Stille ausgewichen wird. Stille ist unangenehm und es muss sofort gefüllt mit irgendwelchen Informationen oder Musik. Und hier entdecken wir diese tieferen Bedürfnisse wie Stille, aber auch zum Beispiel Einfachheit – Einfachheit und auch Gemeinschaft mit den anderen. Die anderen sind nicht einfach eine Bedrohung, sondern eine Bereicherung, und das ist etwas, was für unsere Gesellschaften, glaube ich, immer wichtiger wird.

Timm: Frère Alois, Prior der Gemeinschaft von Taizé, ich danke Ihnen sehr fürs Gespräch!

Frère Alois: Bitte schön!


Links bei dradio.de:

Euer Herz verzage nicht! Eine Lange Nacht über die Brüdergemeinschaft von Taizé

Weltjugendtag bestürzt über Tod von Taizé-Gründer Frère Roger