"Wir brauchen die Atomtechnologie nicht"

Marina Silva im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 04.07.2011
Die brasilianische Spitzenpolitikerin und Umweltaktivistin Marina Silva hat Deutschland aufgefordert, Brasilien beim Atomausstieg zu unterstützen. Gleichzeitig bedauert sie, dass die Bundesrepublik ihr Heimatland jahrelang von der Bedeutung der Atomkraft überzeugt habe.
Stephan Karkowsky: Im Studio begrüße ich nun eine Grünen-Politikerin mit einer beeindruckenden Biografie: Geboren im tiefsten Amazonasgebiet, die Familie arme Kautschukzapfer, mit 16 lernt sie Lesen und Schreiben, bald schon studiert sie Geschichte, mit 36 bereits ist sie die jüngste Senatorin Brasiliens. Unter Lula war sie Umweltministerin, trat aber aus Protest gegen seinen Industrialisierungskurs zurück und kandidierte voriges Jahr gegen Lulas Nachfolgerin – mit großem Erfolg, sie holte nämlich auf Anhieb für die brasilianischen Grünen 19,4 Prozent: Marina Silva, bem-vindo, herzlich willkommen!

Marina Silva: Obrigada!

Karkowsky: Sie sind zu Gast in Berlin auf Einladung der Grünen-Bundestagsfraktion, und da gibt es ja eine Gemeinsamkeit: Voriges Jahr wurden Sie mit Fraktionschefin Renate Künast ausgezeichnet vom einflussreichen "Foreign Policy"-Magazin als Top Global Thinker, also führender Kopf der globalen Umweltbewegung. Haben diese beiden Frauen noch mehr Gemeinsamkeiten, diese starken Umweltaktivistinnen?

Silva: Ich glaub, ja. Ich denke, dass die Grünen in Deutschland gezeigt haben, dass es möglich ist, mit großer Entschlossenheit eine andere Politikauffassung zu entwickeln, und es ist sehr wichtig, welche Position sie auch vor der Welt einnehmen. Die Grünen in Deutschland haben gezeigt, dass es möglich ist, den Wunsch nach Nachhaltigkeit in die Praxis umzusetzen, und ich glaube, das ist etwas, was uns ähnelt.

Karkowsky: Natürlich sind die Probleme in Deutschland andere als in Brasilien. In Südamerika ist gerade das Ackerland ein großes Problem, es wird immer teurer wegen der weltweit enorm gestiegenen Nachfrage nach Soja. Selbst in Argentinien bauen ehemalige Rindfleischfarmer nun lieber Soja an, da kriegen sie wesentlich mehr Geld für weniger Arbeit. Wie ist die Situation in Brasilien?

Silva: Die ökonomische und soziale Entwicklung ist für die Länder von sehr großer Bedeutung, und für die Entwicklungsländer ist es ganz klar, dass wir nicht die Irrtümer der Industrieländer wiederholen dürfen. Wir müssen unsere Produktion natürlich auch erhöhen, aber dies müssen wir erreichen durch eine höhere Produktivität, und nicht durch die Zerstörung der Umwelt. Wir meinen, dass dies möglich ist, man kann landwirtschaftliche Produktion entwickeln, ohne den Wald zu zerstören, ohne Boden und Wasser zu verschmutzen.

Karkowsky: Welche Folgen hat denn der Sojaanbau in Brasilien derzeit für den Regenwald?

Silva: Wir hatten sechs Jahre lang einen Plan verfolgt gegen die Abholzung, einen Plan zur Bewahrung des Regenwaldes unter der Regierung Lula, das war während meiner Amtszeit, als ich Umweltministerin gewesen bin. In dieser Zeit ist es gelungen, die Abholzung um 70 Prozent zu verringern und die CO2-Emissionen um zwei Milliarden Tonnen. Und die Landwirtschaft ist in dieser Zeit um 60 Prozent gestiegen, und das eben gleichzeitig bei dieser Verringerung um 70 Prozent der Abholzung. Im gleichen Zeitraum ist auch die Armut um 30 Prozent zurückgegangen. Das alles zeigt, dass es möglich ist, dass man etwas erreichen kann, wenn man ein ordentliches Umweltmanagement hat, wenn man die entsprechenden Anreize schafft. Wir können also eine wirtschaftliche Entwicklung erzielen, ohne die Umwelt zu zerstören. Wir haben im Moment einen Gesetzesentwurf im Nationalkongress, der ein großes Risiko darstellt für das weitere Bestehen des Regenwaldes.

Karkowsky: Nun ist Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff 2010 gewählt worden. Ist das ein Problem für die Umweltpolitik des Landes, oder führt sie die Politik von Lula fort?

Silva: Zum Ende der Regierung von Präsident Lula gab es schon einige Hinweise auf Änderung zur Umweltpolitik. Allerdings hat Dilma Rousseff im zweiten Wahlgang sich mit mir zusammengeschlossen, und sie hat gegenüber mir und auch der Grünen-Partei einige Verpflichtungen genannt, die sie eingehen würde, das heißt, dass sie auch Umweltmaßnahmen unterstützen würde. Wir hoffen sehr, dass es nun keine Rückschritte in dieser Politik geben wird, weder in der Gesetzgebung, noch im Hinblick auf die Abholzung, sondern dass alle produktive Entwicklung immer auch die Nachhaltigkeit im Auge behält.

Karkowsky: Sie hören im "Radiofeuilleton" die ehemalige brasilianische Umweltministerin Marina Silva. Frau Silva, in jüngster Zeit wurden in Brasilien erneut fünf Umweltaktivisten ermordet. Das klingt in deutschen Ohren natürlich sehr fremd. Wer hat ein Interesse an so etwas?

Silva: Der Kampf um den Regenwald, besonders im Amazonasgebiet, ist schon immer ein sehr schwieriger Kampf gewesen. Schon in den 80er-Jahren wurde der Umweltaktivist Chico Mendes ermordet, es gab immer sehr große Gewalt, die sich leider bis heute erhalten hat. Dieser Kampf hat sich auch in den letzten Jahren verschärft, während meiner Amtszeit sind der einheimischen Bevölkerung Ländereien zugewiesen worden, das waren fünf Millionen Hektar Land, und dort sollte die einheimische Bevölkerung die Möglichkeit haben, den Wald für ihre Zwecke zu nutzen. Dagegen hat es immer einen sehr großen Kampf derer gegeben, die das Land zu ihren Zwecken besetzen wollten und das Land auch für andere Zwecke benutzen wollten. Es ist aber sehr wichtig, dass die Bevölkerung dort eine Lebensgrundlage erhält und dass sie gegen diese Eindringlinge geschützt wird.

Karkowsky: Haben sie den Eindruck, dass Umweltschützer in Brasilien ausreichend geschützt werden von der Regierung, und ihre Mörder mit aller Härte verfolgt werden?

Silva: Es reicht einfach nicht aus, dass der Bevölkerung das Land zur Verfügung gestellt wird. Ich hatte ja gesagt, dass es auch notwendig ist, dass die Menschen dort geschützt werden müssen. Leider gibt es noch nicht ausreichende Schutzsysteme dafür, und die Mörder beziehungsweise diejenigen, die die Bevölkerung bedrohen, gehen meist straflos aus. Die Regierung muss deshalb die Mittel zur Verfügung stellen, damit alles getan werden kann gegen Gewalt und gegen Straflosigkeit.

Karkowsky: Der Regenwald wird in Europa gern als mythisches Symbol intakter und gleichzeitig gefährdeter Natur genutzt. Glauben Sie, dass er für Sie noch eine andere Bedeutung hat, weil Sie ja darin geboren sind und aufgewachsen sind?

Silva: Die Wälder haben eine sehr große Bedeutung für das Wassergleichgewicht auf dem Planeten. Gleichzeitig leben Millionen und Abermillionen Menschen in den Wäldern und die Wälder bedeuten für sie eine soziale, eine kulturelle, eine spirituelle Identität. Dort lebt die indigene Bevölkerung, und man kann daher den Wald nicht nur als etwas Ökonomisches betrachten, sondern er hat eine sehr große Bedeutung für die Identität dieser Bevölkerung und auch für die Entwicklung ihrer eigenen Vorstellung von der Welt.

Karkowsky: Was müsste Deutschland tun, um zur Rettung des Regenwalds beizutragen?

Silva: Es gibt ja sehr viele Diskussionen darüber, es ist zu einer Konvention über die Biodiversität gekommen, und das Wichtige ist, dass sich alle Beteiligten an der Erhaltung der Biovielfalt in der Welt, und dass die traditionellen Kenntnisse ebenso genutzt werden wie die Beiträge, die aus den entwickelten Ländern kommen. Beiträge, die in technologischen Fragen bestehen, in der Innovation, im Wissen, in den Kenntnissen, die weitervermittelt werden. Das alles muss darauf gerichtet sein, dass die Biodiversität nachhaltig erhalten bleibt. Und sicherlich müssen dann die entwickelten Länder auch ihren Beitrag dazu leisten, sie müssen auch zahlen dafür, dass die Bevölkerung, die traditionelle Bevölkerung in den Wäldern weiterleben kann.

Karkowsky: Sie sind nun nach Deutschland gekommen ein paar Tage, nachdem hier der Atomausstieg beschlossen wurde. Wann steigt Brasilien aus?

Silva: Ich halte den Atomausstieg Deutschlands für sehr wichtig. Leider war es so, dass Deutschland lange Jahre Brasilien davon überzeugt hat, wie bedeutend die Atomenergie sein kann, und darum denke ich, dass es jetzt gut wäre, wenn Deutschland wiederum Brasilien davon überzeugt, dass es nicht gut ist, diese Atomenergie weiterzuentwickeln. Und wenn diese Energieform nicht gut für Deutschland ist, dann ist sie nicht gut für alle Teile der Welt. Wir haben auch viele Möglichkeiten, die Energiequellen in Brasilien sind sehr vielfältig, wir können 45 Prozent unserer Energie mit Solarenergie, mit Windstrom, mit Biomasse, mit Biokraftstoffen betreiben, und wir brauchen daher diese Atomtechnologie nicht, die nicht nur gefährlich, sondern auch teuer ist.

Karkowsky: Marina Silva ist die Spitzenpolitikerin der brasilianischen Grünen. Herzlichen Dank, dass Sie hier waren! Muito obrigado!

Silva: Obrigada!
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