Wie Philosophen denken und forschen

14.04.2011
Dieter Henrich geht der Frage nach, wie große Werke der Philosophie entstehen. Die Einsichten kommen plötzlich sagt er. Und immer verbinden sie die theoretische Lösung eines Grundproblems damit, den Weg hin zu einer neuen Lebensperspektive zu öffnen.
Wir müssen unser Leben führen. Aber meist wollen wir das nicht nur irgendwie tun. Wir wollen es auch verstehen, wollen Licht bringen in das Dunkel unseres allzu oft verunsicherten Lebensvollzugs.

So, sagt Dieter Henrich, erging es auch den ganz Großen unter den Philosophen: Descartes, Kant, Hegel, Wittgenstein. In plötzlichen und einmaligen Momenten von Klarheit kamen ihnen die Einsichten, auf die sie die Gebäude ihrer Philosophie gründeten.

Dieter Henrich geht der Frage nach, wie große Werke der Philosophie entstehen. Wer glaubt, das sei eine eher abseitige Spezialfrage für Experten, hat sich gründlich geirrt. Denn die Frage führt direkt ins Herz der Philosophie, zu der Frage, warum wir philosophieren und zu welchem Zweck.

Vier Stadien macht Henrich aus, die es braucht, damit ein großes Werk der Philosophie Wirklichkeit wird. Zunächst muss der Denker ein grundlegendes Defizit in allen vorherrschenden Lehren seiner Zeit wahrnehmen. Dann folgt im zweiten und entscheidenden Stadium eine plötzliche Einsicht.

Die ist mehr als ein bloßes "A-ha!" oder "Heureka!" Denn die philosophische Einsicht, die den Keim eines großen Werkes bildet, ist eine allumfassende, lebensverändernde Erkenntnis. Sie vollzieht sich in höchster Intensität und Klarheit. Entscheidend dabei ist, dass sie die theoretische Lösung eines Grundproblems damit verbindet, den Weg hin zu einer neuen Lebensperspektive zu öffnen. Im dritten und vierten Stadium wird diese Einsicht dann geprüft, begründet und schließlich in eine literarische Form gebracht, die zwischen zwei Buchdeckel passt.

Große philosophische Einsichten verbinden stets Theorie und praktische Lebensführung miteinander: Das ist eine der zentralen und interessantesten Thesen des Buches. Leider führt Henrich aber nicht weiter aus, was er denn mit der praktischen Orientierung des Lebens genau meint. Dennoch - dieser erste Teil des Buchs ist klar, spannend und nachvollziehbar geschrieben. Er gibt Einblicke in philosophische Schaffensprozesse, die so bisher noch niemand untersucht hat.

Im zweiten Teil hält Henrich ein leidenschaftliches Plädoyer für ein Philosophieverständnis, das auf das Ganze zielt und alle Aspekte des Lebens durchdringt. Bewahrt werden soll die Suche der Philosophie nach dem nicht hintergehbaren Gründenden in unserer Welt.

Henrich will die Philosophie retten: aus den Fängen eines kulturellen Relativismus, der ihre Erkenntnisse als bloß kreativen Ausdruck einer Kultur versteht; vor einem nüchternen Kreuzworträtsel-Verständnis, wie es die Begriffsanalyse und formale Logik suggeriert; davor, die Philosophie auf Bereiche des Wissbaren zu begrenzen und sie dadurch ihres eigentlichen Kerns zu berauben.

Das ist inspirierender Stoff zum Nachdenken und zugleich schwere Lektüre. Denn große Teile von Henrichs Argumentation werden erst vor dem Hintergrund von Hegels Philosophie verständlich und eine klare Linie wie im ersten Teil fehlt.

Trotzdem: Dieses "kleine" Werk ist ein erfrischender Beitrag zur Positionsbestimmung der Philosophie heute. Und die ist – egal welcher philosophischen Schule man anhängt - derzeit dringend nötig.

Rezensiert von Sibylle Salewski

Dieter Henrich: Werke im Werden: Über die Genesis philosophischer Einsichten
C.H. Beck Verlag, München 2011
216 Seiten, 22,95 Euro.