Westjordanland

50 Jahre Siedlungsbau

Die jüdische Siedlung Avnei Hefetz bei Tulkarem im Westjordanland.
Die jüdische Siedlung Avnei Hefetz bei Tulkarem im Westjordanland. © Hafez Omar
Von Ofer Waldman · 01.06.2017
Vor rund 50 Jahren entstanden die ersten Siedlungen im Westjordanland, als Folge des Sechstagekriegs 1967. Damals religiös-national motiviert, sind die knapp 600.000 Siedler heute mehrheitlich säkular.
"Hier ist das Land Israel! Ich habe eine größere Berechtigung hier zu sitzen als ein Tel Aviver in Tel Aviv – die Verbindung des jüdischen Volkes zu diesem Ort ist historisch bewiesen. Ich bin in Hebron geboren und kenne keine andere Realität. Israel existiert schon länger mit den besetzten Gebieten als ohne sie. Ich kenne keine andere Realität."
Hibat Schwejber sitzt auf dem Balkon ihres Hauses am Rande der jüdischen Siedlung Susya, unweit der palästinensischen Stadt Hebron. Sie ist knapp 50 Jahre alt – und war eines der ersten jüdischen Kinder, das in den besetzten Gebieten geboren wurde. Das Kopftuch aus weißem Leinenstoff hat sie eng um ihr Haar gebunden. Seit 16 Jahren wohnt sie in der Siedlung, ist inzwischen Mutter von sechs Kindern. Mit kurzen, trockenen Sätzen erzählt sie von ihrem Vater, einer Gründungsfigur der jüdischen Siedlungsbewegung im Westjordanland. Die Entscheidung, in einer Siedlung zu wohnen, ist für sie Familienpflicht.
"All die Jahre gab es eine Mission, neue Siedlungen im Lande Israels zu gründen, aus voller Überzeugung an unseren gerechten Weg. Als ich klein war, wurden bei uns sechs jüdische Studenten ermordet. Für meinen Vater war es furchtbar, aber er hat alles getan, damit die Siedlung in Hebron nicht zusammenbricht. Ich wuchs in einem Elternhaus auf, in dem ein starkes Sendungsbewusstsein herrscht: Wir dürfen nicht weggehen!"

Das Leben in einer Siedlung gleicht für Hibat einem religiösen Gebot, das nicht angezweifelt werden kann.
Hibat Schwejber 
Hibat Schwejber auf dem Balkon ihrer Wohnung in der Siedlung Susya. Sie war eines der ersten jüdischen Kinder, das im besetzen Westjordanland geboren wurde.© Deutschlandradio / Ofer Waldman
Die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der palästinensischen Bevölkerung, ja sogar die Existenz der Palästinenser um sie herum werden völlig ausgeblendet. Hibat zählt damit zu den national-religiösen Siedlern, in Israel "ideologisch" genannt. Und sie hält an ihrer Siedlung fest.
"Ich bin in die Landschaft verliebt, und bin nah bei meinen Eltern. Die Gründer hier kamen aus Ideologie her, es war hart, ohne Straßen und Wege. Ein Kilometer entfernt liegt das antike Susya mit der alten Synagoge, 1400 Jahre alt! Wir sind die zentrale Siedlung in der Umgebung, mit einem großen Lebensmittelladen und der großen Synagoge. Es gibt auch ein Schwimmbad. Es wohnen hier 150 Familien, alle religiös. Ich bin eine Realistin und ich glaube nicht, dass uns hier was passieren kann, dass man hier die Siedlung räumt! Netanyahu würde das nicht wagen. Immer wieder wird davon gesprochen, uns von hier zu vertreiben, aber es passiert nichts!"

Der Sechstagekrieg und seine Folgen

Idyllisch-verschlafen, vergisst man fast, dass Susya in den Gebieten liegt, die 1967, vor genau 50 Jahren, von Israel während des sogenannten Sechstagekrieges besetzt wurden. Der Krieg brachte Millionen Palästinenser unter israelische Besatzung. Sie tauchen aber in den Erzählungen der Siedler selten auf. Lieber redet man über die für Juden heiligen Stätten, die seit dem Krieg in israelischer Hand sind wie Jerusalem, Hebron und Betlehem.
Die Siedlung Beit El nahe Jerusalem. Hier hat der Bibel nach Jakob geträumt, dass Gott ihm das Land Israel gibt. Shlomi Mizrachi ist hier der Sicherheitschef. Er fährt uns mit seinem Geländewagen durch die Siedlung. Vor einem Schild mit den relevanten biblischen Versen steigt er aus.
"Und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und ihm träumte…"
Die Beine breit, eine Pistole in der Gürteltasche und eine Kippa auf dem Kopf, liest er weiter, was auf dem Schild steht:
"Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott. Das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden. Und Jakob stand früh am Morgen auf und nannte die Stätte Bethel."


Religiöse jüdische Nationalisten verstehen bis heute die Besatzung des Westjordanlands vor 50 Jahren als die ersten "erlösenden Schritte des Messias". Schon kurz danach entstanden die ersten jüdischen Siedlungen.
"Ich versuche es, in einer Sprache zu sagen, die du verstehst: Es sind jetzt die Tage des Messias. Seine Ankunft steht kurz bevor. Das Volk Israel ist stark und geht nirgendwohin."
Straße zur jüdischen Siedlung Susya, unweit der palästinensischen Stadt Hebron.
Straße zur jüdischen Siedlung Susya, unweit der palästinensischen Stadt Hebron. © Deutschlandradio / Ofer Waldman

Für ihn bedeutet der Zaun Sicherheit

Shlomi ist Ende 30, lebt in dieser Siedlung seit zehn Jahren. Wir fahren entlang des elektrischen Zauns, der die Siedlung von ihrer Umgebung abschirmt. Für ihn bedeutet dieser Zaun Sicherheit. Dahinter liegen die palästinensische Stadt Ramallah und einige Dörfer. Ständig gibt es Auseinandersetzungen zwischen den Siedlern, der palästinensischen Bevölkerung und der israelischen Armee – mit Verletzten und Toten, auf beiden Seiten. Er aber sieht nur die eine Seite.
"Ständig fliegen Molotov-Cocktails und Steine auf den Ort; gleich hier wurde neulich ein Molotov-Cocktail geworfen, aber die Armee hat es zum Glück abgewehrt, es saßen hier Menschen und haben mit ihren Kindern Falafel gegessen."
Bei den Stichwörtern "Kinder" und "Siedlung" horchen alle auf: Wie kann man hier Kinder großziehen? Das frage ich mich auch. Die religiös-national motivierte Siedlerin Hibat aus der Siedlung Susya antwortet so:
"Es gibt Kinder, die große Angst haben, klar haben sie Angst. Aber ob ich glaube, hier sei es gefährlich und ich sollte deshalb wegziehen? Kommt gar nicht in Frage, diese Option gibt es nicht!"
Beit El und Susya sind zwei religiös-national motivierte Siedlungen. Ihre Anwohner entsprechen dem gängigen Bild des israelischen Siedlers: religiös, hochideologisch, aggressiv. Und doch: Hinter den ideologischen Parolen verstecken sich oft ganz pragmatische Überlegungen – was auch der Sicherheitschef Mizrachi zugibt.
"Die Häuser sind sehr günstig hier, heutzutage kann sich ein junges Paar weder in Jerusalem noch in Tel Aviv, im Zentrum, eine Wohnung leisten, aber bei uns in den Siedlungen ja! Man überquert eine Grenze, stimmt, man muss durch einen Checkpoint durch, aber direkt dahinter bekommst du eine Villa mit Garten und mit tollen Möglichkeiten für die Kinder. Das überzeugt!"

Ideologie und Realität

Ist die religiös-nationalistische Ideologie also nur eine Kulisse?
Stecken dahinter finanzielle Sorgen? Der israelische Soziologe Erez Maggor hat lange zu diesem Thema geforscht – und ist überzeugt:
"Die religiös-messianische Agenda existierte vor allem in den ersten Jahren nach dem Sechs-Tage-Krieg. Und ehrlich gesagt: sie scheiterte. Die Siedler haben es nicht geschafft, die Israelis für sich zu gewinnen. Denn die meisten von ihnen haben sich damals weder mit der Ideologie noch mit den Interessen der religiösen Siedler identifiziert."


In der Tat: 1977– zehn Jahre nach dem Krieg – lebten lediglich 5.000 Siedler in den besetzten Gebieten. Doch als im selben Jahr die nationalkonservative Partei "Likkud" an die Macht kam, änderte sich das: Mit Hilfe von finanziellen Anreizen und öffentlichen Investitionen lockte sie viele Siedler an. Innerhalb des darauffolgenden Jahrzehnts verzehnfachte sich die Siedlungsbevölkerung. Heute leben knapp 600.000 jüdische Siedler in Westjordanland und Ostjerusalem.
"Die Geschichte ändert sich dadurch tatsächlich, wenn man die sozial-schwachen Bevölkerungsschichten mitberücksichtigt. Sie kamen in die Siedlungen nicht so sehr aus der Ideologie heraus, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Mit der Ideologie der Siedler, der Ansiedlung des ganzen Landes, hatten sie nichts zu tun!"
Ariel. 1978 entstanden, wurde es wegen steigender Lebenshaltungskosten in Israel zu einem der erfolgreichsten Siedlungsprojekte in den besetzten Gebieten. Schon damals war das Leben in Israel teuer. Ariel hat keine biblische Konnotation, liegt am Rande der besetzten Gebiete, fern von der palästinensischen Bevölkerung, nah am israelischen Kernland mit seinen Beschäftigungsangeboten.

"Ich wohne hier seit 23 Jahren, die Wohnung war damals sehr günstig. Wir kamen her und sahen eine junge, gepflegte Stadt, wir lieben es hier, die Kinder auch, ein schöner Ort, gute Luft, hohe Lebensqualität…"
Alte Synagoge Susya, im Hintergrund ein Vorort von Hebron.
Alte Synagoge Susya, im Hintergrund ein Vorort von Hebron. © Deutschlandradio / Ofer Waldman
Dudu sitzt vor seinem Kiosk und zündet sich eine Zigarette an. Er möchte seinen Nachnamen nicht nennen. Dudu ist weder religiös noch brennt er für irgendeine politische Ideologie. Und dennoch lebt der etwa 50jährige in Ariel, einer Siedlung, die inzwischen 20.000 Einwohner hat. Hier gibt es einen Konzertsaal und auch eine Universität.
"In Ariel gibt es einen Querschnitt durch alle Bevölkerungsschichten und aus allen Gruppen. Religiöse und Säkulare, Schweinesser und Koscherbeachter, alles gut gemischt. Man ist nah am israelischen Kernland, wohnt aber günstiger, denn dort sind die Mieten sehr hoch. Hier hast du eine hohe Lebensqualität, der Staat investiert hier mehr in die Bildung der Kinder. Es fehlt uns hier an nichts. Wieso also nicht? Ich bin genau 20 Minuten vom Landeszentrum entfernt!"
Dudus Familie stammt aus Marokko, zuvor lebte er in einer kleinen Stadt in der israelischen Peripherie. Weil er dort keine Zukunft für sich und seine Familie sah, zog er in die Siedlung Ariel. Denn – auch das ist Fakt: die Sozialleistungen im Kernland Israel sind gekürzt worden – in den Siedlungen dagegen nicht.

Die Einwohner der Siedlerstadt Ariel

Die Siedlerstadt Ariel liegt auf einem Berg, durch Sicherheitswege von ihrer Umgebung klar abgetrennt. Im Westen sieht man die Skyline von Tel Aviv, zum Greifen nah. Ariel ist typisch für die "säkularen", nicht-ideologischen Siedlungen.
"Hier ist man Zionist, ob man will oder nicht. Du kommst in einen Ort, um deine Wohnsituation zu verbessern, aber du wirst ungefragt zum Zionisten. Du nennst dich nicht so, aber eigentlich setzt du den Zionismus in die Praxis um."
Eigentlich hat Daniel Kohavi mit Zionismus – also mit der jüdischen Besiedlung des Landes – wenig am Hut. Wie viele Anwohner Ariels ist er zwar jüdisch, aber nicht religiös.
Der aus Südamerika stammende Kohavi ist ein guter Geschäftsmann: Von seinem kleinen Büro aus vermietet er Autos und verkauft Immobilien. Es liegt unweit der kleinen Einkaufsstraße Ariels, in der man vor allem Russisch hört; die Hälfte der Einwohner hier sind Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion.
"Die russischen Bürger finden es hier toll, sie haben kein Problem. Sie sind keine Extremisten, eher rechts als links in ihrer politischen Meinung. Sie sind aber auch keine Angsthasen. Es ist für sie einfacher, hier ein Haus zu kaufen, die Bildung, dann die Gemeinschaft, die Sauberkeit – alles hier ist in Ordnung."
Was der Staat Israel in die Siedlungen investiert, ist drei bis fünf Mal so hoch wie im sogenannten Kernland. Wer hier lebt, ist darauf angewiesen, dass diese "bevorzugte Behandlung" fortgesetzt wird. Deshalb gaben 80 Prozent der Anwohner Ariels bei den letzten Wahlen ihre Stimmen den Parteien der jetzigen rechts-nationalen Koalition.
"Der Rechtsruck dieser Menschen geht zusammen mit ihrem Umzug in die Siedlungen. Sie kamen aus Geld- und Wohnungsnot. Dafür bot die Regierung eine Lösung in den besetzten Gebieten an. Das veränderte ihre Überzeugung!"
Je länger die Besatzung andauert und je mehr in die Siedlungen investiert wird, umso weniger haben die Siedler Angst um ihre Zukunft. Politisch sind sie so mächtig wie nie zuvor. Und die Palästinenser, ihrer Rechte immer mehr beraubt, verschwinden aus dem Bewusstsein der israelischen Besatzer – eine Abwesenheit, die in diesem Beitrag bewusst widergespiegelt wurde.


Der UN-Sicherheitsrat und mit ihm die Weltgemeinschaft betrachten die Siedlungen als völkerrechtwidrig und als Hindernis auf dem Weg zum israelisch-palästinensischen Friedensvertrag. Alle bisherigen Lösungsvorschläge sind auch tatsächlich gescheitert. Vielleicht, so der Soziologe Erez Maggor, sollte man zunächst die negativen Stereotypen beiseitelegen.
Mauer zwischen Jerusalem und Betlehem.
Mauer zwischen Jerusalem und Betlehem.© Deutschlandradio / Ofer Waldman
"Die negativen Stereotypen helfen beiden Seiten nicht weiter. Zumindest denjenigen nicht, die gegen die Siedlungen sind. Man muss die Menschen, die dort wohnen, offen anschauen und versuchen, sie zu verstehen. Denn wenn wir sie als eine Gruppe von Wahnsinnigen bezeichnen, die weder anzusprechen noch zu verstehen sind, verfehlen wir die Realität."
Und die Realität sei: Die Mehrheit der 600.000 Siedler lebt in ihren Siedlungen nicht wegen ideologischer Überzeugungen. Das – so Maggor – könne direkte, politische Konsequenzen für eine friedliche Lösung haben. Denn wer durch staatliche Subventionen in die Siedlungen gelockt wird, kann auch durch finanzielle Anreize wieder aus den Siedlungen herausgelockt werden. Und damit würde ein ideologisches Hindernis zu einem finanziellen Problem, das wesentlich leichter lösbar wäre. Oder?
"Die Überzeugungen der Menschen in den Siedlungen werden bestimmt durch ihre materielle Existenz. Eine Alternative zu ihrer aktuellen Existenz könnte also ihre Überzeugung beeinflussen. Dadurch kommen wir einer Lösung der Siedlungsproblematik und damit vielleicht auch des israelisch-palästinensischen Konflikts näher."
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