Westeuropäische Zeitungen veröffentlichen die "Charta 77"

Von Ariane Thomalla · 07.01.2007
Im August l968 hatten die sowjetischen Panzer dem Prager Frühling ein brutales Ende gesetzt. Professoren, Künstler, Journalisten wanderten in Haft und erlitten Berufsverbot. Doch sie gaben den moralischen Widerstand gegen eines der härtesten Regime des Ostblocks nicht auf. Am 7. Januar l977 erschien die "Charta 77" in den wichtigsten westlichen Tageszeitungen.
Es war eine Rockband, die die Charta 77 ins Rollen brachte: die "Plastic People of the Universe". Langhaarige junge Musiker, die sich nicht darum scherten, dass englische Songtexte in der nach dem "Prager Frühling" politisch und sozial vereisten Tschechoslowakei verboten waren. Vom Husak-Regime als "asozial, arbeitsscheu und drogensüchtig" diffamierte Nonkonformisten, die mit "schwarzen Konzerten" auf den Dörfern das über sie verhängte Auftrittsverbot unterliefen. Sie riskierten, verprügelt zu werden. Die Politische Polizei war allgegenwärtig.

"Wir wollten einfach tun, was uns gefiel und, weil uns das vom Staat nicht erlaubt war, wurde es politisch."

Das ließ den Dramatiker Vaclav Havel, dessen Stücke und Bücher gleichfalls verboten waren, 1976 mit dem tschechoslowakischen "underground" Kontakt aufnehmen.

" Bei allen Ergebnissen der Charta war eines besonders gut: die neue Art der Beziehungen zwischen sonst verschiedenen Gruppen und Menschen. "

Als im März 76 die Plastic People nach einem Konzert verhaftet und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, standen Vaclav Havel, Pavel Kohout, Jan Patocka, Jiri Dienstbier, Jiri Hajek, Ludvik Vaculik, Milan Uhde, kurz die Dissidenz seit l968, in den Gängen des Gerichts, entschlossen die Situation der Menschenrechtsverletzungen in der CSSR an die internationale Öffentlichkeit zu bringen. Immerhin hatte auch das Husak-Regime die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet. Unter äußerster Geheimhaltung verfassten sie bis Jahresende den Text der Charta - Stichtag war der 1. Januar l977 - und holten die Unterschriften von 242 sorgfältig ausgewählten Oppositionellen ein.

Über persönliche Kanäle waren die Redaktionen der wichtigsten westlichen Tageszeitungen informiert und versprachen bis zum 7. Januar stillzuhalten. Havel und Vaculik wollten am 6. Januar das Dokument der Charta und die Unterschriften dem Parlament überreichen. Doch als der Schauspieler Pavel Landovsky die beiden abholte, schossen wie in einem Gangsterfilm mehrere Autos der Staatspolizei auf sie zu. Nach einer wilden Hetzjagd durch Prag wurden sie gestellt, mit Gewalt aus dem Auto gezerrt und in die Bartolomejska gebracht, ins berüchtigte Prager Untersuchungsgefängnis. Hier begann nun die Serie tagtäglicher Verhöre vor allem der drei Chartasprecher. Das waren Vaclav Havel, der frühere Außenminister Jiri Hajek, ein Reformkommunist von 68, und der Philosoph Jan Patocka.

"Er habe allerdings nur acht Tage Chartasprecher sein können, sagte Havel. Danach sei er bis Mai ganz ins Gefängnis gesperrt worden. Ein Vorspiel zu seiner vierjährigen Haftstrafe eineinhalb Jahre später. Ein Mann, der viel gewagt hat. Jiri Hajek und Jan Patocka wurden weiterhin in die Bartolomejska zitiert, bis der 70jährige Patocka am 13. März an den Folgen eines zehnstündigen Verhörs starb. Sein Begräbnis sollte zu einem Fanal werden. Als die Opposition dem Professor die letzte Ehre erwies, geschah das unter dem Auge und den Videokameras der politischen Polizei. "

"Im Stadion nebenan brachte die Motorradmannschaft des Polizeisportvereins "Roter Stern" in der Friedhofskurve ihre Motoren auf volle Touren und, als der Sarg in die Grube sank, hängte sich ein patrouillierender Hubschrauber unmittelbar über das Grab."

Der wahnsinnige Lärm sei plötzlich zu stehender Stille geworden, schrieb Pavel Kohout.

"Ich will nicht über Schikanen sprechen -"

deutete Jiri Hajek im März 77 seine Schwierigkeiten an,

"Es gibt immer irgendwelche Unannehmlichkeiten, wenn man mit der Macht nicht gerade in allen Ansichten einig ist. "

Deren Rache nur mühsam gebremst war, nachdem als Folge der westlichen Zeitungsberichte am 7. Januar Solidaritätserklärungen aus aller Welt nach Prag kamen. Die Liste der Schikanen war endlos. Vom Einziehen der Personalausweise, Führerscheine, Autozulassungen bis zur Aberkennung der Kranken- und Sozialversicherungen, des Abschaltens der Telefone, der Kündigung von Wohnungen, der Einschüchterungen durch anonyme Drohbriefe und Schlägertrupps. Wer ins Ausland reiste, wurde ausgebürgert wie der Schriftsteller Jiri Grusa oder Pavel Kohout, der den österreichischen Staatspreis für Literatur empfing und bei der Rückkehr mit Gewalt an Händen und Füßen auf österreichischen Boden zurückgeschleift wurde. Er hatte in Wien, gleichsam die "Samtene Revolution" von 1989 im Blick, gesagt:

"Wollen wir hoffen, dass uns die Zeit bald in eine vernünftige Zukunft versetzt,
in der unser verirrtes Heute der Vergangenheit angehört."