"Wenn man über Islamophobie spricht, dann spricht man auch über Rassismus"

Kübra Yücel im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 12.11.2010
Die Gastarbeiter von damals sind die Muslime von heute, sagt Politikwissenschaftlerin und Journalistin Kübra Yücel. Der Islam sei in Deutschland nicht mehr eine Religion, sondern werde ethnisiert und rassifiziert. Die daraus entstehende Ausgrenzung führe zu sozialen Problemen, klagt Yücel.
Klaus Pokatzky: Die Integrationspreise des Bundesinnenministeriums wurden heute verliehen, und zwar an den internationalen Sportklub AlHilal in Bonn, an ein Projekt der Berliner Polizei für zurückgezogen lebende muslimische Frauen, an eine Internetplattform und an ein Forum muslimischer Frauen im Kreis Reutlingen. Um den Integrationspreis hatten sich insgesamt 186 Initiativen beworben. Die Auswahl der sechs Gewinner hat eine unabhängige Jury aus acht ehemaligen muslimischen Mitgliedern der Deutschen Islam-Konferenz getroffen. Kübra Yücel hat Politikwissenschaften an der School of Oriental and African Studies in London und an der Universität Hamburg studiert, sie ist Journalistin und betreibt den Blog ein-fremdwoerterbuch.com". Ich begrüße sie nun in Hamburg am Telefon. Guten Tag, Frau Yücel!

Kübra Yücel: Guten Tag, Herr Pokatzky!

Pokatzky: Wie kommentieren Sie in Ihrem Blog denn den Integrationspreis und seine Träger?

Yücel: Nun, erst mal finde ich das wunderbar, dass Projekte geehrt werden. Auf lokaler Ebene sind diese Projekte sehr wichtig, weil Menschen sich dort engagieren, sie übernehmen Verantwortung, sie übernehmen Verantwortung für andere, versuchen etwas zu bewegen, und ich finde es wunderbar, wenn man diese Arbeit würdigt und ehrt. Zum Beispiel wenn man sich versucht, durch eine Webseite eine Stimme zu verschaffen und einen Dialog fördert, einen Austausch fördert und auch Empowerment betreibt, dass man auch bestimmte Dinge benennt und darüber diskutiert. Das sind wunderbare Dinge, und deshalb finde ich es einmal wunder ..., also großes Lob, dass diese Dinge angepackt werden und benannt werden und auch in der Öffentlichkeit Platz finden. Und dass sie auch Geld bekommen und Förderung bekommen, das ist ja auch sehr wichtig. Andererseits aber – das ist das, was mir Bauchschmerzen bereitet – fragt sich, warum wird, in welchen Kontext wird das Ganze gesetzt? Also wenn ich mir anschaue, wie der Preis, also das vorbildliche Projekt des Von-und-mit-Muslimen, die die Integration fördern. Dabei braucht man gar nicht Islam und Integration in diesen Kontext zu setzen, denn Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Pokatzky: Ja, aber warum sollten denn jetzt nicht Muslime, die sich da besonders hervorgetan haben, auch besonders ausgezeichnet werden?

Yücel: Es ist natürlich wunderbar, sie dafür auszuzeichnen, doch dann frage ich mich natürlich, welche Message wird gesendet, welche Nachricht wird gesendet. Denn ...

Pokatzky: Und welche wird gesendet?

Yücel: Und zwar auf, wenn man das gesamtgesellschaftlich auf der gesamten Debatte betrachtet, dann werden sozusagen Muslime dafür geehrt, dass sie das zur Integration tun, obwohl ja eigentlich das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und nicht sozusagen eine Aufgabe von Muslimen. Und diese Projekte hätten noch von ganz verschiedenen Personen gemacht werden können. Das ist, weil de Maizière in seiner CDU-Politik, also unser Bundesinnenminister, diese Debatte fährt, Muslime müssen die Chancen wahrnehmen, die in Deutschland geboten werden.

Pokatzky: Stört es Sie auch, dass Muslime jetzt sozusagen von anderen zu Muslimen gemacht werden? Sie haben in einer Kolumne geschrieben, dass Sie ein Stopp der Islamisierung Europas fordern, dass Sie es erschreckend finden, wie viele Menschen nun plötzlich zu Muslimen gemacht werden – was meinen Sie damit genau?

Yücel: Genau, es geht darum, dass in Deutschland Menschen mit Migrationshintergrund leben, die aus Ländern stammen, wo der Islam zum Beispiel die vorherrschende Religion ist, das heißt aber nicht, dass diese Menschen alle Muslime sind. Trotzdem erlebe ich in meiner direkten privaten Umgebung, dass Freunde, die gar nicht muslimisch sind, teilweise atheistisch oder vielleicht sogar islamfeindlich, plötzlich zu Muslimen gemacht werden. Sie werden von anderen als Muslime behandelt und müssen sich plötzlich für ihren Alkoholkonsum rechtfertigen, für ihre Discobesuche. Das führt dazu, dass der Islam nicht mehr in Deutschland eine Religion ist, sondern eigentlich viel mehr ethnisiert wird, rassifiziert wird. Das heißt, Muslime Deutschlands sind nicht mehr Menschen, die eine bestimmte Religion praktizieren, sondern inzwischen eine Ethnie geworden. Die Ausländer von früher, die Gastarbeiter von damals sind die Muslime von heute. Und deshalb ist es auch sehr wichtig, das zu begreifen, das zu benennen, denn die Schlussfolgerung daraus ist, wenn man über Islamophobie spricht, dann spricht man auch über Rassismus.

Pokatzky: Unsere Kollegin von der "Zeit", Hilal Sezgin, hat in der "Zeit" geschrieben als ein Beispiel: Auf einer Gartenparty kommt eine Buchlektorin aus dem Staunen nicht heraus, als ich ihr von meinem kleinen Gnadenhof für Schafe und Hühner erzähle. Das sei aber ungewöhnlich, denn die Orientalen liebten doch keine Tiere. Heißt das, dass das schichtenübergreifend ist? Also von einer Verlagslektorin könnte ich ja erst mal sagen, ja, würde ich doch ein bisschen was anderes erwarten.

Yücel: Ich habe teilweise sogar die Erfahrung gemacht, je gebildeter, akademischer Personen sind, desto eingeschränkter in ihrer Weltsicht teilweise. Das heißt, ich habe eigentlich die ersten Diskriminierungserfahrungen erst in der Uni erfahren, wo dann Kommilitonen zu mir meinten, so: Kübra, du bist keine Deutsche, weil du ein Kopftuch trägst. Also mir wäre das als Politologe peinlich, so etwas zu sagen, denn von einer Religion auf eine Nationalität zu schließen, ist ja jetzt rein kausal und logisch absolut peinlich. Aber die meisten Diskriminierungserfahrungen habe ich dort erlebt. Und dort habe ich gemerkt, dass dort wahrscheinlich, weil bislang die Menschen Muslime eigentlich eher in der Unterschicht quasi waren oder in der Mittelschicht, in akademischen Kreisen nicht besonders vertreten, dass die Vorurteile dort am meisten verhärtet worden sind.

Pokatzky: In sozusagen intellektuellen Kreisen oder zumindest in Kreisen, die einen intellektuellen Anspruch haben?

Yücel: Mhm!

Pokatzky: Also was stört die denn daran, was stört die, dass Sie ein Kopftuch tragen?

Yücel: Sie meinen, was sie stört, also die ...

Pokatzky: Nein, ich meine jetzt nicht, was Sie stört, sondern was da diese, jetzt sie klein geschrieben, diese Mitstudentinnen und -studenten daran gestört hat, dass Sie, Kübra Yücel, Journalistenkollegin und Bloggerin in Hamburg, ein Kopftuch an der Uni getragen haben.

Yücel: Da gibt es natürlich viele Gründe, denke ich, aber ein Grund, der mir in letzter Zeit besonders häufig auffällt, ist, dass Religion in Deutschland bisher keinen Platz in der Öffentlichkeit hatte. Plötzlich treten Menschen mit religiösen Symbolen auf und treten in der Öffentlichkeit auf, sind in akademischen Kreisen vertreten, sprechen und sind plötzlich sichtbar. Plötzlich wird Religion thematisiert. Und eine Freundin, die in den USA war, hat erzählt, dass sie dort plötzlich mit ganz vielen religiösen Menschen umgeben war und plötzlich das Gefühl hatte, da ist so eine Art Zugzwang, sie muss sich auch religiös orientieren. Das heißt, das plötzliche Aufkommen des Themas Religion führt natürlich auch zu einem gewissen Unbehagen, dass man sich auch religiös orientieren muss – sei es nun zum Beispiel eines der monotheistischen Religionen oder einfach zu sagen, ich bin Agnostiker oder Atheist, das sind einfach Themen, mit denen man sich bisher nicht beschäftigt hat und plötzlich gezwungen wird, sich zu beschäftigen. Das kann natürlich zu Abwehrreaktionen führen.

Pokatzky: Heißt das – sagen wir mal, ich nenne sie jetzt einfach weiter so, intellektuelle Kreise, also meinetwegen Menschen mit akademischem Hintergrund oder wie immer wir sie bezeichnen wollen –, dass die eher Probleme damit haben, wenn sozusagen Ihresgleichen, wie Sie jetzt, Kübra Yücel, ein Kopftuch tragen, als wenn das die Frau des türkischen Gemüsehändlers um die Ecke macht?

Yücel: Ja, das ist auch eine interessante Beobachtung, die ich mache, denn dann muss man sich mit diesen Menschen nicht auseinandersetzen, außer jetzt mit dem Kleingeld, das man dann zahlt, um, keine Ahnung, Salatgurken zu kaufen. Plötzlich muss man sich mit diesen Menschen auf intellektueller Ebene auseinandersetzen. Plötzlich gibt es einen Menschen, der die Vorurteile, die man hat, angreifen kann. Ich kann dann ... Ein Gemüsehändler kann sich nicht vielleicht unbedingt wehren, wenn der Mehrheitsdeutsche quasi dort irgendwelche Vorurteile hat oder irgendwie Vorurteile äußert. Ich aber hingegen kann ihn natürlich einen Spiegel vorhalten, ich kann ihn zwingen zu reflektieren, ich kann ihm ein Gegenbild vorhalten, und das führt natürlich zu Konfrontationen, das führt auch zu Unbehagen.

Pokatzky: Was haben Sie denn Ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen damals gesagt, als die Sie, ja, angemacht haben, weil Sie ein Kopftuch tragen?

Yücel: Na, dann hab ich natürlich gesagt, was ist mit Deutschen, die zum Islam konvertieren, sind die jetzt plötzlich nicht mehr Deutsche? Und dann hieß es: Ach ja, also Kübra, das ist eine andere Sache. Und dann war eigentlich, glaube ich, allen klar, wie unlogisch das ist, und da hat die Debatte eigentlich auch schon aufgehört.

Pokatzky: Was glauben Sie denn, wie lange es noch dauern wird, bis Frauen, die ein Kopftuch tragen, nicht in erster Linie als Muslima wahrgenommen werden?

Yücel: Ich glaube, das hängt immer von der Einzelperson ab. Wenn wir nicht als Gesamtgesellschaft anfangen, Menschen als Menschen zu betrachten und sie nicht aufs Äußerliche zu reduzieren, dann kann man es auch nicht Einzelpersonen verübeln, wenn sie so handeln. Aber das ist ja kein Problem, das nur mit Muslimen stattfindet, sondern generell, dass oftmals das Äußere eine sehr wichtige Rolle spielt und deshalb Menschen auf bestimmte Dinge reduziert werden. Das heißt, es hängt total davon ab, wie reflektiert ein Mensch ist, wie sehr man in der Lage ist, ein differenziertes Weltbild aufzubauen.

Pokatzky: Aber wie haben denn damals in London, als Sie in London studiert haben, Ihre Mitstudentinnen und -studenten auf das Kopftuch reagiert?

Yücel: Das war ganz anders. Da habe ich zum ersten Mal, ehrlich gesagt, das Gefühl gehabt, als Mensch wahrgenommen zu werden und nicht primär als Kopftuchträgerin. Das lag wahrscheinlich da dran, dass Musliminnen in der Universität viel häufiger repräsentiert waren ...

Pokatzky: In London.

Yücel: Genau, in London. Und da war das zum Beispiel auch so, dass ich als Türkin ganz anders behandelt wurde, als Mensch mit türkischem Migrationshintergrund. Als ich sagte, dass ich aus der Türkei komme ursprünglich, dann hieß es plötzlich: Boah, Istanbul ist so toll und wir lieben diese Stadt und sie ist so multikulturell! Und diese Reaktion habe ich in Deutschland noch nie erlebt gehabt. Da erst habe ich gemerkt, wie sehr ich in Deutschland diskriminiert wurde.

Pokatzky: Glauben Sie, dass wir das in absehbarer Zeit, in einigen Jahren erleben werden?

Yücel: Ich hoffe sehr. Ich hoffe sehr, weil ich erlebe, wie viele Menschen – sei es nun muslimische Jugendliche, aber auch nicht muslimische Jugendliche – sich mit diesem Thema auseinandersetzen und auch merken, wie viele Gefühle verletzt worden sind. Sie merken, dass diese Ausgrenzung zu vielen sozialen Problemen führt, und fühlen sich auch sehr unwohl damit. Ich bekomme Leserbriefe und E-Mails nicht nur von Muslimen, die sagen, ich finde es toll, dass diese Themen angesprochen werden, sondern vor allem und ganz häufig auch von Menschen der Mehrheitsgesellschaft, die es wunderbar finden, dass endlich diese Debatte differenzierter geführt wird oder dass es Menschen gibt, die sich um eine differenzierte Debatte bemühen. Deshalb habe ich sehr viel Hoffnung, und ich bin eigentlich ganz optimistisch.

Pokatzky: Danke an meine Kollegin und Bloggerin Kübra Yücel in Hamburg. Tschüss!

Yücel: Danke auch, tschüss!